Archive for Januar 4th, 2010

4. Januar 2010

Wenn der Mensch wie Vieh behandelt wird

Infolge des Zweiten Weltkriegs waren Millionen Menschen auf der Flucht. Ein polnisches, nun auch auf Deutsch veröffentlichtes Buch beschreibt das Leid von Deutschen, Polen, Ukrainern und Juden

Frauen in Wintermänteln irren durch die Ruinen einer Stadt. Auf dem Rücken tragen sie Bündel mit Habseligkeiten. An der Hand halten sie kleine Kinder. Der Himmel ist grau verhangen. Alle frieren. Doch wer sind sie? Deutsche auf der Flucht vor der Roten Armee 1945? Polen, kurz vor dem Abtransport zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich 1940? Juden im Warschauer Ghetto 1943? Ukrainer in Lemberg, die ins Innere der Sowjetunion deportiert werden?

Das Titelbild des Atlanten Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung könnte für alle Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa von 1939 bis 1959 stehen. Für die der Polen und Juden, der Deutschen und Ukrainer, der Litauer und Weißrussen, der Tschechen und Slowaken. In Polen wurde das Buch als bestes populärwissenschaftliches Werk des Jahres 2009 mit einem Historikerpreis ausgezeichnet. Nun hat es der Weltbild-Verlag in Augsburg in deutscher Sprache herausgebracht.

Die Vertreibung ist ein Thema, das in Polen immer wieder heftig diskutiert wird. Nicht nur deshalb, weil ein gewaltiger Nachholbedarf besteht: Bis 1989 durfte im kommunistisch regierten Polen weder über die Vertreibung der Deutschen gesprochen werden noch über die Massendeportationen der Polen in die Sowjetunion. Auch die Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber den Juden war ein Tabu, ebenso die Vertreibung der Ukrainer durch die Polen.

Die Ideologie von den „wiedergewonnenen Gebieten im Westen“ sollte darüber hinwegtäuschen, dass Stalin die polnische Kriegsbeute aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 nach Kriegsende behalten durfte. Während in Westdeutschland die Vertriebenen ihre angeblich „ungerechtfertigt hohe Strafe für den Zweiten Weltkrieg“ beklagten, mussten die Polen schweigen. Die eigene Vertreibung aus den „Kresy“, den polnischen Ostgebieten mit den Städten Lemberg, Wilna und Grodno, wurde euphemistisch als „Repatriierung“ bezeichnet. Dabei mussten die meisten Ostpolen 1945 in den von den Deutschen verlassenen Gebieten neu anfangen. In Schlesien, Pommern und Ostpreußen war alles fremd. Von einer „Heimkehr ins Vaterland“ konnte keine Rede sein.

Auch die Geschichtspolitik in Deutschland über den Heimatverlust und das Unrecht der Vertreibung sorgt in Polen immer wieder für Aufregung. Denn die Ersten, die ihre Heimat verloren, waren keine Deutschen. Die Vertreibung begann 1939 mit dem Überfall Hitlers und Stalins auf Polen.

Das Buch zeigt genau dies auf. Hitlers „völkische Flurbereinigung“ begann mit der „Heim ins-Reich“-Politik. Den Balten- und Rumäniendeutschen, den Wolhynien-, Galizien- und Bessarabien-Deutschen, die sich in Trecks auf den Weg machten, hatten die Nazis bessere Bauernhöfe in „Großdeutschland“ versprochen. Im Warthegau wurden Polen und Juden massenweise vertrieben, um Platz für die Siedler zu machen.

Im Kreis Zamosc (Zamosch) in Südostpolen vertrieben die Nazis die Einwohner aus rund 300 Dörfern, verschickten die einen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich, die anderen in KZs und Arbeitslager und ermordeten viele an Ort und Stelle. Die Kinder, so sie blond und blauäugig waren, wurden den Eltern geraubt, mit dem Zug nach Deutschland geschafft und dort an „rassisch einwandfreie SS-Familien“ verteilt.

Während die Deutschen ihren Teil des besetzten Polens mit Ghettos, KZs, Arbeits- und Durchgangslagern überzogen, deportierten die Sowjets aus dem von ihnen besetzten Teil Polens hunderttausende Menschen nach Sibirien. Wie die Deutschen benutzen auch die Sowjets vorwiegend Viehwagons zum Transport der Menschen. Viele starben an Hunger, Kälte, Entkräftung. Die Deutschen ermordeten Polens Elite in „Intelligenzaktionen“, die Sowjets erschossen über 20.000 Reserveoffiziere. Damit wollten Hitler wie Stalin verhindern, dass aus Polen jemals wieder ein souveräner Staat werden könnte.

Im Buch wird auch die Evakuierung, Flucht und Vertreibung der Deutschen in den Westen ausführlich geschildert. Aber auch die Massendeportationen der Deutschen ins Landesinnere der Sowjetunion 1944 und 1945 kommen nicht zu kurz. Zahlreiche Karten zeigen den sich immer weiter nach Westen schiebenden Frontverlauf und die Fluchtwege. Knapp 7,5 Millionen Deutsche flohen 1944/45 aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches in den Westen oder wurden später von Polen und Russen vertrieben.

600.000 bis 1,2 Millionen Menschen fanden dabei den Tod. Die Gauleiter hatten viel zu spät den Befehl zur Evakuierung gegeben. Viele Frauen und Kinder mussten sich mitten im Winter mit Pferdewagen oder zu Fuß auf den Weg machen. Ohne Beschönigung beschreiben die polnischen Autoren aber auch, wie es in den Lagern für Deutsche vor der endgültigen Aussiedlung aussah.

Das Kapitel über die deutschen Vertriebenen endet mit der „Aktion Familienzusammenführung“: Rund 350.000 Personen verließen in den Jahren 1950 bis 1959 Polen.

Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Ost- und Mitteleuropa 1939 bis 1959. Von Grzegorz Hryciuk, Malgorzata Ruchniewicz, Bozena Szaynok, Andrzej Zbikowski, aus dem Polnischen von Werner Hoelscher-Valtchuk. Weltbild, 253 Seiten, 14,95 Euro

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4. Januar 2010

Der Zeitgenosse unserer Träume

In den ersten Tagen des Jahres 1960 starb der große Albert Camus. Die Kraft seiner Literatur kommt aus der Einfachheit – und aus der Einsamkeit.

© STF/AFP/Getty Images

Der 4. Januar 1960 ist ein grauer, regnerischer Montag. Der Himmel hängt wie ein klammer weißer Handschuh dicht über der Erde. Seit einem Jahr lebt Albert Camus in der Grande Rue de l’Église in Lourmarin. Ein Haus auf dem Land! Sein Traum seit vielen Jahren. Ein Stück eigenes Leben, irgendwo in Algerien oder in der Provence.

Davon hat er schon als 18-Jähriger geschwärmt. Er musste erst Nobelpreisträger werden, um es endlich zu bekommen. Das Landhaus in Lourmarin, nicht weit vom Haus seines Freundes, des großen französischen Dichters René Char, liegt im Vaucluse, 59 Kilometer von Avignon entfernt. Es ist sein Rückzugsort, sein Miniaturgriechenland oder einfach »die schönste Gegend der Welt«.

Von der Terrasse seines Hauses aus sieht er auf die Zypressen des Dorffriedhofs. Hier sitzt er seit ein paar Monaten allein in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock und schreibt an seinem Roman Der erste Mensch. Nach Paris möchte er nicht zurück. Aber er leidet unter der Einsamkeit. Der kleine Esel im Stall vor dem Haus ist seine einzige Gesellschaft. Außer zum Mittagessen im Hotel Ollier sieht der Schriftsteller niemand.

Seit Tagen starrt er auf die zunehmend kahle Landschaft vor seinem Fenster und auf das weiße Blatt auf seinem Tisch. Wenn ihn Freunde besuchen, klagt er: »Ich habe erst ein Drittel meines Werks geschrieben. Eigentlich fängt es mit diesem Buch erst an.«

Er ist 46 Jahre alt und bildet sich ein, erst jetzt auf dem Land in Lourmarin zu einer Wahrheit in seinem Leben zu finden und zuvor in Algier, in Oran, in Lyon, in Paris in einer Art Lüge gelebt zu haben. Er atmet freier, erwähnt in seinen sonst so spröden Tagebüchern die wunderbaren, von Regenwasser beschwerten Rosen im Garten, den Rosmarin und die Schwertlilien.

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