Archive for November, 2010

16. November 2010

Ride on the Wave de la Rave…

Um auf diese extra ordinäre Band wieder aufmerksam zu machen, gibt es hier ein Video von den Tangerine Turnpike…

Schlagwörter: , , , ,
16. November 2010

Alles verranzt, verschissen, verkorkst, vermilbt

„Songs Of L. And Hate“: Christiane Rösinger schreibt Klagelieder zum Mitsingen und Mitleiden

50 Jahre alt wird Christiane Rösinger kommenden Jänner und kann immer noch so authentisch traurig klingen wie ein kleines Mädchen, dem die Eiskugel aus der Tüte auf den Boden geplumpst ist. – Was den Tonfall anbelangt, mind you, nicht die Wortwahl: So verschlissen und verrissen, so verbissen und verschissen / So verschleimt und verkeimt und versport … Der Song „Verloren“ kommt mit nicht mehr als einer Aneinanderreihung von Partizipien, einem einfachen Pianoakkord und in der Steigerungsstufe mit Schlagzeug und Gitarre aus – und, oh, welche Dramatik, kommt dabei doch zustande. Die Mundharmonika am Schluss hätt’s gar nicht mehr gebraucht.

ast sieht es wie ein Familienfoto aus, wenn Rösinger gemeinsam mit einem weiteren Wahlberliner das Cover von Bob Dylans Album „Bringing It All Back Home“ aus 1965 nachstellt: Sie gibt den Altmeister selbst, Andreas Spechtl von Ja, Panik wirft sich gekonnt in die Pose der Ehefrau von Dylans damaligem Manager. Nur das herumliegende popkulturelle Verweisgut hat sich etwas aktualisiert – unter anderem ragt im Hintergrund die Debüt-Platte von Rösingers erster Band, den Lassie Singers, ins Bild. Ist auch schon wieder fast 20 Jahre her.

„Aber fragt mich einer: Wie ist dir’s zumute? Grad so, als ob das Herz recht angenehm verblutet.“

Nach dem Ende der Lassie Singers legte Rösinger einen fliegenden Wechsel zu Britta hin, und spätestens hier wurde es zur Trademark, die schon zuvor oft und gerne geschmähte Liebe nur noch als das L-Wort zu bezeichnen … daher die logische Abwandlung des (fast) gleichnamigen 1971er Albumtitels von Leonard Cohen. Womit das Zitate-Spiel – trotz Zusammenarbeit mit Spechtl, der derlei Strategien mit seiner Band auf ein neues Level gehoben hat – auch schon wieder vorbei ist. „Songs Of L. And Hate“ enthält auch nur eine einzige Coverversion, nämlich Jackson Brownes „These Days“, das die meisten unweigerlich mit Nicos dunkler Stimme verbinden werden. In Rösingers ins Deutsche übertragener Version wird der Schwebezustand, in dem sich der Song zu befinden scheint, noch leichter – zugleich schlägt Rösinger damit eine Brücke zu ihrem legendären Lied „Phase“ aus Lassie Singers-Zeiten, das bei einem Blutdruck von 15:6 zustande gekommen sein muss.

Rösinger bzw. Britta gebührt auch die Ehre, Ja, Panik schon lange vor dem später einsetzenden Hype Rosen gestreut zu haben – die musikalische Zusammenarbeit mit Spechtl kann daher nicht verwundern. Die Breaks und Tempowechsel in den Songs „Es geht sich nicht aus“ und „Es ist so arg“ erinnern am stärksten an das, was man von Spechtls Band kennt – und beide, im Bundesdeutschen nicht so übliche, Formulierungen unterstreichen den Einfluss noch einmal. Spechtl spielt Gitarre, Schlagzeug und Klavier und hält sich gesanglich weitgehend im Hintergrund. Das Gstanzl „Berlin“ stimmen die beiden aber gemeinsam an: „Wenn die Parkausflügler dann die Schwäne füttern und die Allerblödsten es gleich weitertwittern / Wenn die Ökoeltern sich zum Brunchen treffen und die Arschlochkinder durch die Cafés kläffen / Ja, dann sind wir alle in Berlin …“ Wäre leicht, das beim nächsten Gastspiel in „hier in Wien“ umzumodeln, schließlich passt es 1:1.

„Die Midlife-Crisis? Die hatte ich doch schon! Ich warte auf die Altersdepression.“

Nur selten geht es ins Uptempo, wie beim Lassie-Singers-Boogie „Haupsache raus“; meistens gibt Rösinger zu sparsamer Instrumentierung die Knef des Prekariats. Während Hildegard vor 60 Jahren aber noch Friedrich Meyers „Illusionen“ besang, ist Rösinger schon lange bei der „Desillusion“ angekommen. Insbesondere das Stück „Sinnlos“ enthält einen derartigen Overkill an Elend, dass man dabei nicht ganz ernst bleiben kann. Klar, Rösinger spielt mit der Traurigkeit und bietet sie als Gemeinsamkeit schaffende (und damit letztlich aufbauende und sogar aufheiternde) Erfahrung an. Dass das durchaus drollig wirken und damit zum Problem werden kann, wenn frau etwas wirklich ernst meint, dürfte Rösinger aber bewusst sein.

… weshalb einige Stücke jenseits aller Liebäugelei liegen: Sei es „Es geht sich nicht aus“, die Schimpftirade „Verloren“ oder das mit einer sanft gezupften Gitarre und ein wenig Hall auskommende Schlussstück „Kleines Lied zum Abschied“. Da wird nicht auf Pointen und Mitsingen geschielt, das ist einfach nur ehrlich: „Und wär es nicht so furchtbar traurig / Ich hätt mich tot gelacht.“

16. November 2010

Dieser Weg wird kein leichter sein

Keith Richards veröffentlicht mit „Life“ seine seit Jahren angekündigte Autobiografie

Der Gitarrist der Rolling Stones festigt damit seinen Status als Erfinder von Sex, Drogen und Rock’n’Roll.

Der alte Mann auf dem Sofa kratzt sich behaglich im Schritt. Dann nimmt er einen kräftigen Schluck Jack Daniels und erzählt dem Walkman mit leichtem Zungenschlag vom Krieg: „Sie haben sich ein Fantasiebild von mir gemalt, sie haben mich gemacht, die Leute da draußen haben sich diesen Volkshelden geschaffen. Ist ja auch in Ordnung. Ich werde alles tun, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie wollen, dass ich Dinge tue, die sie nicht tun können. Sie haben ihre Arbeit, sie haben ihr Leben, sie sind Versicherungsvertreter – aber gleichzeitig lebt in ihrem Inneren ein tobender Keith Richards. Sie haben das Drehbuch geschrieben, und darin bist du der Volksheld, also halte dich dran. Und ich habe mein Bestes gegeben.“

Gut zehn Millionen US-Dollar Vorschuss hat Keith Richards vor Erscheinen seiner jetzt im gesamten mit Major Tom und Freizeitchemie erreichbaren Universum in diversen Sprachen wie Englisch, Französisch. Mandarin, Bantu und Fuckyou vorliegenden Autobiografie mit dem lakonischen Titel Life erhalten. Das sind von hier bis zum Mond so viele Whiskeyflaschen als Behelfstreppe, dass man gar nicht ins Leere steigen muss, um zu Fuß dorthin zu gelangen. Anders gesagt: Wer wissen will, wie sehr ein Mensch leidet, muss ihm unbedingt beim Feiern zusehen. Keith Richards hat diesbezüglich schon Party gemacht, als wir noch gar nicht geboren waren.

In der mit über 700 Seiten gar nicht einmal so schmal bemessenen deutschen Übersetzung des weltweit bekanntesten Vertreters in Sachen Ausschweifung mit musikalischer Begleitung finden sich allerdings nicht die großen unbekannten, noch nie gehörten und sensationellen Wahrheiten, die man im marketingtechnisch hochgejazzten Vorfeld von Life erwarten wollte.

Der Weg von Keith Richards ist sicher kein leichter gewesen. Vor allem in Sachen toxischer Missbrauch kann man dem mittlerweile 66-jährigen Gitarristen und prototypischen Zerrbild eines Rockmusikers absolut gar nichts vormachen. Jemand, der nach jahrzehntelanger Heroinabhängigkeit noch immer auf dutzenden Seiten darüber schreibt, dass ihm die Droge dazu diente, konzentrierter und effizienter arbeiten zu können, um im gleichen Atemzug der Weltjugend einen mahnendes „Don’t try this at home! “ nachzurufen, hat aber seine sieben Zwetschken definitiv nicht beisammen.

Man muss als Leser gar nicht besonders sittlich gefestigt sein, um sich bei der Lektüre einer mit einstweiligen Haftbescheiden, Einreiseverboten und Bewährungsauflagen reichlich gesegneten Biografie des Rolling-Stones-Faktotums heftig erregen zu können. Allein die Schilderung seiner Europa-Tournee Mitte der 1970er-Jahre mit seinem damals im Vorschulalter befindlichen Sohn schreit nach Jugendamt. Als einziges vernunftbegabtes Familienmitglied einer mit dem Ex-Model Anita Pallenberg als Mutterbiest ideal besetzten Junkie-Sippe war Sohn Marlon damals damit betraut, den guten Vater rechtzeitig vor den Konzerten aus dem Wachkoma zu holen. Die Kollegen aus der Firma trauten sich nicht, weil Keith stets mit einem Revolver unter dem Kissen zu Bett ging. Während der Reise durch diverse Mehrzweckhallen und Polizeihauptkommissariate ist man dann auch schnell dafür motiviert, Mick Jagger zu rehabilitieren.

Sex und Kalauer

Von Keith Richards mit diversen Schwanzlängenvergleichen und Kosenamen wie „Brenda“ oder „Her Majesty“ verhöhnt, war immerhin der als geld- und machtgierig verschrieene Sänger dafür verantwortlich, dass unser Spargeltarzan an der Riffgitarre weitermachen durfte, weil er mehrere Male kurzfristig erfolgreich auf Entzug geschickt und vor dem Gefängnis bewahrt werden konnte.

Keith Richards selbst kalauert sich derweil als der Welt ältester Teenager (strafmündig, aber nicht für voll zu nehmen) durch Flughafenwitze mit Gummihandschuh. Er navigiert zwischen Brüsten von dicken schwarzen Muttergefühlsaufbringerinnen in den frühen 1960er-Jahren (Die USA galten für Briten seit jeher als Land, in dem man Sex haben kann!) und landet bei der Frau seines besten Freundes. Richards bedauert kaltschnäuzig den frühen und immer wieder von Mord- und Verschwörungstheorien umwaberten Tod von Stones-Gitarrist Brian Jones im Swimmingpool. Keith Richards dazu: „Wahrscheinlich ist er jemandem auf die Nerven gegangen.“ Und es wird in diesem Buch auch sonst so ziemlich alles unternommen, um zwischen Marokko (Drogen), West Sussex (harte Drogen), Kanada (absurd harte Drogen) und New York (kontinentalplattenverschiebende, mächtig harte Drogen) unvernünftig und asozial zu bleiben.

Der große Wurf, als den diese Anekdotenhäufung beworben wird, ist Keith Richards nicht einmal im Ansatz gelungen. Zu gallig klingen die sexistischen Witzchen („Feministinnen, was wären sie ohne die Rolling Stones?“) oder die ermüdenden Beleidigungen seiner „Arschloch-Freunde“, um über eines hinwegtäuschen zu können: Keith Richards als altes Riffmonster der einst besten Band der Welt hat seit 1980 keinen anständigen Song mehr zustande gebracht. Alles was danach kam und nicht ganz peinlich klingt, stammt aus der Feder von Lebensfeind Mick Jagger. Prost Mahlzeit.

Keith Richards interview Andrew Marr Show Oct 2010 Part 1

16. November 2010

Einer, der sich nicht zähmen ließ

Der in Paris lebende Schweizer Schriftsteller Paul Nizon wird am Montag mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet

Zürich 1974: Es war ein warmer, fast vorsommerlicher Apriltag, als Federico Fellinis Film Amarcord über (s)eine Jugend im faschistischen Rimini in den Schweizer Kinos anlief und Paul Nizon, den der italienische Regisseur lange schon „wie ein Stern“ begleitet hatte, im Zürcher Tagesanzeiger schrieb: „Fellini erfindet keine Filme. Er zeigt , das Leben‘, er zeigt es in seiner anarchischen Wildheit und blendet es an in seiner Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, (…). Es ist das gewöhnliche Leben von jedermann, aber in seinen Filmen wird es zur atemberaubenden Saga. Er (Fellini) ist der Clown, der ihnen für Momente und Stunden die Augen öffnet, bevor er sie wieder entlässt. Er hat sie zum Lachen und Weinen gebracht, er hat sie gerührt, durcheinandergebracht und erschüttert. Er hat sie in den Reigen gespannt. Sie werden sich noch eine Weile ,erinnern‘ an ,das Leben‘.“

Vieles, was Nizon über Fellinis Film schreibt, nahm und nimmt er auch für seine eigene Arbeit als Schriftsteller in Anspruch: die Feier der Liebe und des Augenblicks, die Glückssuche, das Jagen nach dem „richtigen“ Leben, dem einen, das nottut, die Amalgamierung von Erinnerung und Gegenwart, das Beharren auf Glanz und einer poetischen Weltsicht, auch wenn die Zeichen anders stehen.

Ein Jahr zuvor, Ostersamstag 1973, hatte Nizon in seinem Journal notiert: „Ungeheure Tiefs mit finsterster Bedrückung, geballte Aggression und viel Lethargie, die ganzen Tage durch.“ Und in der Tat waren die letzten Jahre, das letzte Jahrzehnt eigentlich, schwierig gewesen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und den Job als leitender Kunstkritiker der NZZ, Familie und Sicherheit in die Waagschale geworfen, um Schriftsteller zu werden. Der Erfolg stellte sich zögerlich ein – und Nizon tat das, was er in solchen Situationen immer tut: „Durchhalten. Weitergehen.“

Wiederum 36 Jahre später, 2009, Nizon lebte mittlerweile schon mehr als drei Jahrzehnte in Paris, sollte es dann dieser 1929 in Bern als Sohn eines russischen Emigranten und einer Schweizerin geborene Autor sein, dem als erstem noch lebenden Schriftsteller (später folgten ihm Hans Magnus Enzensberger und Amos Oz) die Ehre zuteilwurde, mit einem 1500 Seiten umfassenden Band mit allen bisher geschriebenen Erzählungen, Romanen und Journalen in der renommierten Quarto-Reihe des Suhrkamp Verlags zu erscheinen – und in dieser Bibliothek der „Weltliteratur und des Wissens“ in einer Reihe mit Autoren wie Foucault, Brecht, Joyce, Bernhard, Marguerite Duras, Cioran, Frisch und Kafka zu stehen.

Undressierbar

Zu Recht, wie viele meinten – auch als Nizon mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet wurde, der ihm am Montag von Bundesministerin Schmied übergeben wird. Nizon ist hier kein Unbekannter: Elias Canetti war sein Trauzeuge, mit Max Frisch und Ingeborg Bachmann war er befreundet, wenn er in Österreich las, reiste Thomas Bernhard an, H. C. Artmann besuchte ihn in Paris, und Handke sieht Nizon als einen „der am wenigsten dressierten Schriftsteller, inmitten der zunehmenden Dressiertheit, Fremdgelenktheit der anderen; undressierbar“.

Undressierbar: Nizon trug in den 1960er-Jahren, als man deswegen bei Linken und Progressiven definitiv noch auf die Reaktionärs-Liste kam, Anzug und Krawatte, posierte mit Zigarette im Mundwinkel in Filmstarmanier auf einer Seine-Brücke für Fotografen – natürlich im Trenchcoat samt Sonnenbrille -, schrieb zu einer Zeit, als von Schriftstellern politische Statements und Themen erwartet wurden, über Persönliches und Erotik (was er immer noch tut) – und tönte dabei großartig, sein Platz unter der Sonne sei im Nachtlokal. Er legte sich mit Kritikern an und verhielt sich insgesamt wie ein Boxer, der in der neunten Runde merkt, dass er nur verlieren kann. Es sei denn, er landet einen Lucky Punch.

Nicht wenige Schweizer Schriftsteller der mittleren Generation, etwa Hansjörg Schertenleib oder Silvio Blatter, sagen, Nizon habe sie zu Lesern gemacht – zu Schriftstellern sowieso. Und der NZZ-Kritiker Samuel Moser schreibt, Nizon sei einer, der sich nicht einfangen lasse: „Früher nicht, jetzt nicht, nie.“ Was stimmt, allerdings hat die Schriftsteller-Inszenierung Nizons Werk mehr geschadet, als sie ihm nützte, und wenn man sich an den Lou- Reed-Sager hält, dass es besser sei, nichts von dem, was man hört, und die Hälfte dessen, was man sieht, zu glauben, und das Äußere der schillernden Autorenfigur ausblendet, ergibt sich bei der Lektüre der Werke Nizons ein anderes, differenzierteres Bild.

Nämlich das einer Schriftstellerpersönlichkeit, die sich als „Autobiografiefiktionär“ im wahrsten Sinn das Leben erschreibt und schreibend sich selbst, nein, dem Leben auf der Spur ist. Es werden bei der Lektüre die Konturen eines Ich sichtbar, das um eine poetische Weltsicht kämpft, um ein Schreibleben, um jedes Buch, um jeden Satz, „der sozusagen ein Heimkehrer aus dem Krieg sein muss, der überleben konnte“.

Das Unterwegssein und Nichtankommenkönnen sind Grundmotive in Nizons Werk, dem auch das Ringen um Schönheit, Form und der Kampf gegen die Auflösung, das drohende Nichts eingeschrieben sind. In kreisenden Suchbewegungen skizziert dieser Autor, der sich in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Am Schreiben gehen (1985) als „Lebenssucher“ bezeichnet, mit existenzieller Wucht und federleichtem Stil Ausgänge aus einer vom Ich als beengend und lebenstötend empfundenen Welt. In exemplarischer Weise schreibt Nizon, oft anhand des eigenen Lebens, über das Ringen um Helligkeit und Schönheit, die für ihn im schöpferischen Akt der Sprache, im Alltag und in der Liebe gefunden werden können.

Das hat in seiner existenziellen, radikalen Ausrichtung in der heutigen Zeit fast schon etwas Romantisches, etwas Tröstliches auch.

Berühmt, nicht erfolgreich

Obwohl er sich in Frankreich – vor allem mit den großen Parisromanen Jahr der Liebe (1981, ein Mann, der neu in der Stadt ist, beginnt, ausgehend von einem Pariser Hinterzimmer, sein Leben neu), Im Bauch des Wals (1989, in dem sich die Leitmotive der Suche nach dem Leben, der Gegenwart der Stadt und der Frauen wiederfinden), Hund Beichte am Mittag (1998, ein Streuner, der alles hinter sich ließ, wendet sich der Vergangenheit zu) und Das Fell der Forelle (2005, über einen Liebesversehrten, der aus Welt und Zeit fällt) – Kultstatus erschrieb, halten sich die Auflagen seiner Bücher in engen Grenzen (Wal 10.000, Jahr der Liebe 20.000, Hund 13.000).

Im deutschen Sprachraum sieht es ähnlich, eher schlechter aus. Hier ist er, obwohl seine Bücher etwa in Hamburg zur Schullektüre zählen und es in jeder Runde, in der über Literatur geredet wird, einen (seltener eine) gibt, der oder die alles von diesem Autor gelesen hat, unterschätzt geblieben.

Er sei ein „berühmter, erfolgloser Schriftsteller“, sagte Nizon vergangenes Jahr. Warum? Im Interview mit dem Standard meint er dazu: „Mein Schreiben ist eine auf Selbstfindung, Positionierung und Haltsuche angelegte individualistische Arbeit. Eine Jagd auf mich selbst. Vielleicht hat die Verhinderung, mit dem großen Publikum Kontakt aufzunehmen, mit diesem selbstausgräberischen Element zu tun, das nicht jedermanns Sache ist. Im Grunde genommen verfertige ich, wenn ich schreibe, ein Einzelstück. Ich wende mich an ein Leser-Du – und nicht an einen großen Markt.“

Und Houellebecq, der mit seinem neuen, soeben mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman La carte et le territoire in Frankreich gerade wieder für Furore sorgt? Nizon: „Ich habe den Roman gelesen, und er hat mich gefangen genommen. Michel Houellebecq hat allerdings eine vollkommen andere Weltsicht, die mit Poesie nicht unbedingt viel zu tun hat. Seine Bücher laufen sehr gut, sie sind von ihrer epischen Struktur her für ein großes Publikum geschrieben, sie richten sich nicht an den eigenen inneren Menschen oder einen Partner. Sie sind marktgängig, aber von einem sehr respektablen Niveau.“

Zu tun hat die für die Qualität dieser Literatur erstaunlich geringe Verbreitung der Werke Nizons vielleicht auch mit dem Etikett „Männerliteratur“, das relativ schnell auf Nizons Bücher, in denen öfter „maisons de rendez-vous“ besucht werden, gestempelt wurde. Zudem lehnt es dieser Autor ab, lineare Geschichten, zu schreiben: Vielmehr sind seine Bücher nach musikalischen Prinzipien konzipiert und komponiert, mit verschiedenen Tempi, Auftakten und wiederkehrenden Motiven. Und nachdem er es sich mit den deutschen Kritikern verdorben hatte, machte er sich in der Schweiz mit seinem Langessay Diskurs in der Enge (1970) schließlich auch keine Freunde. Während Walter Benjamin – mit Blick auf Robert Walser – einmal vermutet hatte, helvetische Literaturarbeit sei das Ergebnis „keuschen, kunstvollen Ungeschicks in allen Dingen der Sprache“, weitete Nizon in Diskurs in der Enge diese These aus. Die schweizerische Kunst sei provinziell, es fehle ihr an Welthaltigkeit und Urbanität. Die Schweiz lehne jede Partizipation mit der übrigen Welt ab, mit Ausnahme jener durch unsichtbare Finanzverflechtungen. Der Oberteufel heiße Utopie, Stoffe gebe es nur für den Psychiater, und das Land sei insgesamt ein „Avantgardist des Todes“.

Nicht nur in Nizons Büchern, deren Schauplätze Bern, Rom, der Spessart, Barcelona und Paris, immer wieder Paris sind, ist das Grenzüberschreitende wichtig, es ist dem Autor in die Familiengeschichte geschrieben. Deshalb hält er auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur nicht nur finanziell (25.000 Euro) für den bedeutendsten Preis, mit dem er ausgezeichnet wurde. Nizon: „Dass es eine europäische Auszeichnung ist, freut mich ungeheuer. Mein Vater war Russe, ich wuchs mit italienischen und spanischen Emigrantenkindern auf, die Eltern meines Vaters sind in London begraben, wo ich zwei Jahre lebte und meine Tochter, die in erster Ehe mit einem Engländer verheiratet war, studierte. Meine Schwester wurde durch Heirat Italienerin, ein Sohn lebt in den USA.“

Das hat Nizons Blick auf Gesellschaftliches geschärft. Zwar gilt der passionierte Zeitungsleser als unpolitisch, in seinem subversiven Beharren auf Subjektivität und Individualität ist er aber politischer als manch „Engagierter“. Vor allem der Regierungschef seiner Wahlheimat, Nicolas Sarkozy, ist ihm ein Dorn im Auge.

So gab er einer Schweizer Zeitung zu Protokoll: „Eine geistlose Managerregierung. Ein Präsident wie der Schneider im Himmel, (….) ein Hampelmann an der Spitze, unbefleckt von Kultur, von Format. Was doch immerhin noch eine Rolle spielte bei einem Landesvater wie Chirac, der zwar als politischer Serienkiller verschrien war; aber er war kein Parvenu, er hatte doch so etwas wie Postur, Humanität, und er war letztlich eine vertrauenswürdige bürgerliche Figur, auch wenn er hie und da in die Staatskasse griff. Während der jetzige eine französische Karikatur von Berlusconi ist, wenn man das so sagen kann.

Wenn die reale Macht auch woanders liegen mag als bei den Regierungen, so färbt die Mentalität der Regierenden doch sehr auf die allgemeine Lebenslage ab. Unter Mitterand, der eine Sphinx war, ein Künstler der Macht, aber eine wirklich große kulturelle Persönlichkeit, war man anders beschirmt als bei diesem kleinformatigen Ubu.“

Bilder

„Ich kann es nicht sagen, mein Vater, vielleicht kann ich’s reisen“, heißt es in Nizons ungestümem Erstlingsroman Canto (1963), einem Vater- und Rombuch, das in seiner offenen Form mit nichts damals im deutschen Sprachraum Bekanntem vergleichbar ist, und Protokoll einer Reise lautet der Untertitel der Erzählung Untertauchen, die von einem Mann handelt, der im Auftrag seiner Zeitung nach Barcelona fährt und dort seiner bürgerlichen Existenz verlustig geht, indem er sich der Liebe hingibt, fraglos, selbst- und pflichtvergessen, ohne Reserve, bedingungslos, bis zur Erschöpfung. Dafür muss man bezahlen in unserer Welt.

Vielleicht hat aber bei Nizon, der einmal sagte, er hoffe, seine Bücher würden im Leser aufgehen, „wie sich japanische Papierblumen im Wasser öffnen“, alles nicht mit den Worten, die für ihn die Welt bedeuten, sondern mit Bildern, der Sprachlosigkeit, begonnen: mit dem Bild des Vaters, eines Chemikers und erfolgreichen Erfinders, der in der riesigen Berner Wohnung verdämmert und früh an multipler Sklerose stirbt – ein Schock für den 13-jährigen Nizon, der ein Jahr lang in der Schule überhaupt nicht mehr „funktioniert“. Mit dem Bild von arbeitenden Frauen, Mutter und Tante, welche die zwanzig Zimmer der Wohnung zur Pension umfunktionieren mussten. Mit dem Bild des gartenreichen Länggassquartiers, Nizon wird es einmal das „Revier des Falken“ nennen, durch das in sanften Schwaden Schokoladegeruch der nahegelegenen Toblerfabrik zog. Mit dem Bild des jungen Mädchens schließlich, in das sich der 12-jährige Gymnasiast verliebt und das ihm auf die Frage, ob es mit ihm gehen möchte, antwortete: „Ich muss es mir überlegen.“

Es sind diese Bilder, die sich durch Nizons erste Bücher Canto, Im Hause enden die Geschichten (1971), Untertauchen (1972) und auch Stolz (1975), einen Roman über die Ich-Gefangenschaft des titelgebenden Helden, der nicht zufällig an Büchners Lenz erinnert, ziehen. Später kamen andere Bilder hinzu, bewegte von Cassavetes und Fellini (ein großer Kinogänger ist Nizon noch jetzt) und statische von Chaim Soutine, Giacometti und Van Gogh, über den Nizon nach seinem Kunstgeschichtestudium promovierte.

Nimmt man nun den Quarto-Band, einen dicken Ziegel, zur Hand, der fast das gesamte Werk dieses singulären Schriftstellers umfasst, wird klar, dass zwischen Nizons Erstling, dem Erzählband Die gleitenden Plätze (1959), und seinem bislang letzten Roman Das Fell der Forelle Meilen liegen – und ein ganzes Leben. Das Leben eines Menschen, der nie eingestiegen und doch immer wieder ausgebrochen ist, der daran glaubt, dass man nur aus einer starken Emotionalität, aus einer großen Teilnahme – „das heißt entweder aus Liebe oder Hass“ – schreiben kann, und der sich lange mit dem Weggehen, Grenzüberschreiten, Verlassen aufhielt.

Dichtung

Dürrenmatt schrieb in einem Brief: „Ich denke oft an dich. Ich sehe dich finster und verschlossen in Paris herumlaufen. (…) Indem ich in deinem Untertauchen lese, wird mir deutlich, was bleibt, was Bild geworden ist, was, damit es Bild geworden ist, wieder zum Wort werden kann, ist Erinnerung, und ich meine damit das Gegenteil von Erdichtung: sind doch gerade die meisten Erinnerungen Erdichtungen, oft großartige: Proust. Reine Erinnerungen aber sind Dichtungen, das heißt nicht Sprachlust, Beschwörung, Wortmagie, sondern das Fallenlassen der Gründe, die ja in der Erinnerung gleichgültig werden, so gleichgültig wie die Zwecke. Doch für die Erinnerung zahlen wir mit Leben, und um zu leben, verbrauchen wir uns, unsere Zeit. Der Tribut, den du entrichten musst, ist verdammt teuer, mag das Resultat noch so kostbar sein.“

Paul Nizon, für den Schreiben etwas Körperliches ist, ging weite Wege, ausgesetzt dem Sirren der Stadt, der Verzweiflung, dem Glück, der Liebe und der lautlosen Explosion der Knospen im Frühling. „Ich bin nicht hier und dort und anderswo. Ich bin nur hier“, heißt es im Bauch des Wals. Daher ist für Nizon immer das jeweils nächste Buch, Der Nagel im Kopf lautet sein Arbeitstitel, das wichtigste. Nizon wird seiner Maxime, die er früh schon in einem Essay formulierte, auch in diesem Werk treu bleiben: „Meine heutige Vorstellung von einem Buch ist diese: Dinge des Lebens ohne Gerüst als eine Art Alltag in die Seiten einschwärmen lassen. Das Ganze filtern und zur Partitur verwandeln, bis es zur Stimme erstarkt und den Ton der unerhörten Kunde gewinnt, den Einmaligkeits- und Allgemeinwert mit drängenden Untertönen des Erinnerns. Es wäre bezeugt von einem authentischen Menschen, dem sich die Zunge löst. Ich schreibe in allen meinen Büchern am selben Buch. Es ist das Buch des Lebens. Viele vor mir haben damit begonnen, ich mache weiter, andere werden es fortführen.“

16. November 2010

Wo die wilden Wandas wohnen

Gut schauma aus: Satiriker Dirk Stermann über ein seltsames Land namens Österreich und das, was Deutschen dort widerfahren kann

Das Auge, sagt Goethe, sieht sich selbst nicht, aber das gilt natürlich nicht nur für das Auge, das gilt auch für den Österreicher. Auch der Österreicher sieht sich selbst nicht. Und weil es uns Österreichern so häufig an einer adäquaten Selbstwahrnehmung mangelt, brauchen wir dringend Feedback von außen, wie zum Beispiel vom türkischen Botschafter oder von Dirk Stermann, der einen kongenialen Hälfte des hoch- und tiefkomischen Satirikerduos Stermann-Grissemann. Die sagen uns dann, wie wir wirklich sind.

Anders als die Schlagzeilen dieser Tage vermuten lassen, sind ja auch nicht die Türken die wahre Problem-Minorität in Österreich, sondern Deutsche wie Stermann. Die Deutschen nehmen uns die Studienplätze weg. Sie erinnern uns konstant dran, dass man die Entnazifizierung auch besser hätte machen können. Und sie stoßen uns ständig mit der Nase darauf, wie schlecht wir Österreicher eigentlich Deutsch sprechen. Kein Wunder also, dass die rachsüchtige Geißelung der Verwendung von Germanismen („dufte“, „gerade mal“) zu den österreichischen Nationalpassionen gehört. Um uns nur ja von Deutschland abzugrenzen, behauptet Stermann, sprechen wir sogar Deutschlandsberg als Deutschlands berg aus.

Wie nehmen die Deutschen Österreich wahr? Dazu hat der Rheinländer Stermann, der 1987 als „naiver Internationalist“ nach Wien gekommen und hier hängengeblieben ist, ein ebenso interessantes wie witziges Buch geschrieben. Stermann schöpft tief aus Austro-Stereotypen und -Klischees, gleichzeitig versteht er es aber, seinen persönlichen Beobachtungen einen anarchischen Spin zu geben, der das Klischeehafte gleich wieder um Häuser transzendiert. Gleich auf den ersten Seiten ein Beispiel hierfür: Da trägt ein Austro-Bsuff lautstark öffentlich „Es wird ein Wein sein, und wir wern nimma sein“ vor. Anders aber, als man es annehmen würde, ist es nicht ein beleibter alternder Heurigenbesucher, der diesen wienerischen Sentimentalitätsklassiker röhrt, sondern ein Zwölfjähriger in einer Straßenbahn am Floridsdorfer Spitz. „Wahrscheinlich ein Tscheche oder ein Slowake“, wie Stermann maliziös hinzufügt.

Stermann stellt sich dem seltsamen Austro-Personal mit offenen Sinnen und unverhohlener Sympathie. Im Krankenhaus schließt er Freundschaft mit der Zuhälterin Wanda Kuchwalek alias der „Wilden Wanda“ („Der Deitsche und i san Freind. Ned woar, Deitscha? Wir Hinnigen miassn zsammhalten.“), er trift auf furzende Taxifahrer („a klassischer Eierschaaß“), resolut depressive Würstelfrauen („Mir geht’s gschissn“) und ORF-Abteilungsleiter, trinkt Ribiselwein in Kritzendorf („Kritz-les-Bains“), ja sogar eine Vorarlbergerin kreuzt seinen Weg. So geschult gelingt es Stermann, sich ganz im Sinn des traditionellen Entwicklungsromans nach und nach zu austrifizieren bzw. zu „entpiefkeniesieren“, wie es im Romanuntertitel heißt. Aller satirischen Heiterkeit zum Trotz ist Sechs Österreicher unter den ersten Fünf aber auch eine durchaus ernsthafte Reflexion über das So-Sein und das Anders-Sein; über nationale Identitäten und über eine gelungene Selbstpreisgabe ans Fremde, wobei das Fremde in diesem Fall einmal nicht „die Ausländer“, sondern wir Österreicher selbst sind. Ein nicht nur duftes, sondern geradezu leiwandes Buch, mit manch einer beherzigenswerten Einsicht: „In Österreich sollte man am besten nur kurze Sätze schreiben (…). Sätze, wie Marlene Streeruwitz sie formuliert: ,Ich. Gehe. Jetzt.‘ Solche Sätze kommen aus kleinen Ländern. In Flächenstaaten wie Kanada oder Australien kann man Schachtelsätze bilden, aber in Österreich nicht.“

Dirk Stermann

Dirk Stermann, „Sechs Österreicher unter den ersten Fünf. Roman einer Entpiefkenisierung“.

€ 16,95 / 265 Seiten. Ullstein Verlag, Berlin 2010

16. November 2010

Anne Franks Biografie als Graphic Novel

160-seitige Ausgabe von Sid Jacobson und Ernie Colón gestaltet

Mit ihrem Tagebuch bewegt Anne Frank immer wieder neue Leser in aller Welt. Am Mittwoch erscheint unter dem Titel „Anne Frank – Eine grafische Biografie“ erstmals die nach ihrem Tagebuch gestaltete Graphic Novel auf Deutsch.

Gestaltet wurde das Buch von Sid Jacobson und Ernie Colón im Auftrag der Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam: Die beiden Amerikaner gelten als Pioniere der politischen Graphic Novel. 2006 setzten sie den Untersuchungsbericht zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA als Graphic Novel, 2009 die Biografie Che Guevaras.

Ähnlich wie Anne Franks Tagebuch über die Zeit im Amsterdamer Versteck vor den Nazi-Schergen wird auch die graphische Version in viele Sprachen übersetzt. Das Interesse an Annes Schicksal sei auch mehr als 60 Jahre nach der ersten Veröffentlichung ihrer Aufzeichnungen vor allem unter jungen Menschen sehr groß, sagte Stiftungs-Direktor Hans Westra. Damit reagiere man auch auf sich verändernde Lesegewohnheiten von Kindern und Jugendlichen.

16. November 2010

Lautverzückungen eines dichtenden Griesgrams

Mit seiner intermedialen Ausstellung „Die Ernst Jandl Show“ huldigt das Wien Museum dem größten Lautanarchisten, den Nachkriegsösterrreich hervorgebracht hat: vor allem ein Ohrenschmaus

Als zentrale Instanz in Lautgebungsfragen besaß der Wiener Dichter Ernst Jandl (1925- 2000) das Prestige eines Musikers: Und so ist auch die als Sonderschau des Wien Museums angelaufene „Ernst Jandl Show“ vor allem ein elektrisierendes akustisches Wechselbad.

In zahlreichen Klangwolken umschmeichelt den Besucher Jandls sonores Pädagogenorgan. Obzwar er zeitlebens dem Ideal der Jazz-Improvisation verpflichtet war, flackert in Jandls zum Brüllen komischen Artikulationsübungen der Ungeist einer überwundenen Epoche auf.

Jandl, der Jahrhundertautor von Lautgedichten wie „schtzngrmm“ und „ottos mops“, hatte Grammatik und Tongebung der Unmenschen genauestens studiert. War es deren unausgesprochenes Ziel, die „deutschen Volksgenossen“ niederzubrüllen, um sie möglichst gefügig zu machen, so entdeckte Jandl in der Schärfe der freien Artikulation das Moment der Freiheit. Der Lautdichter Jandl ist ein Prophet der von der Last verhängnisvoller Autoritäten befreiten menschlichen Stimme.

Klangerregungsspuren

So konnte Wien-Museum-Direktor Wolfgang Kos im Verein mit den Kuratoren Bernhard Fetz und Hannes Schweiger vom Anrichten einer „Jandl-Suppe“ erzählen: Die Auswertung des 170 Umzugskartons umfassenden Jandl-Nachlasses – der Dichter hatte ihn noch zu Lebzeiten dem Österreichischen Literaturarchiv vermacht – förderte Partituren, Notate, Stimmführungsprotokolle und allerlei Tondokumente zutage. Jandls Stimme, schrieb der Schweizer Jürg Laederach, gleiche „mehreren noch zu erfindenden Instrumenten“.

Die Ausstellung, ein Gemeinschaftsprojekt des Wien Museums mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biografie in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek, präsentiert ein leitmotivisch gegliedertes Sammelsurium. Jandls triumphales Arbeitsversprechen „ich schreie mich frei“ markiert den Bruch mit herkömmlichen Strukturen sprachlicher Sinngebung. Wer „jandelt“, der „sein sprachenkunstler“. Mit Recht spricht Kos von der Einführung des Verbums „jandeln“ in den allgemeinen Sprachgebrauch, analog zu dem allerdings stumpf gewordenen Adjektiv „kafkaesk“.

„jazz me if you can“: Im Rundgang zwischen Pressholzplatten, schwach vergilbten Schriftzeugnissen und schwarz-weiß flackernden Video-Einspielungen tauchen die Alter Ego einer zerrissenen Persönlichkeit auf. Da gibt es Jandl, den bürokratisch korrekten Englischprofessor, der im Tweedsakko auf die Wahrung bürgerlicher Umgangsformen achtet. Den Literaturfunktionär, der 1971 in einem Brief an den damaligen Bundeskanzler Kreisky um die Inaussichtstellung einer größeren Wohnung bittet (Kreisky zeigt in seinem Antwortschreiben „vollstes Verständnis“).

Und da gibt es die aufflackernde Dämonie eines Performers, dessen Lautzerlegungen Großauditorien in rasende Verzückung versetzen konnten. So geschehen in der Londoner Royal Albert Hall 1965, als Jandl dem Beat-Poeten Allen Ginsberg die Show stahl.

Bleibt noch der Sammler: Plattencover, auf dem Boden zum Mosaik zusammengelegt, verdeutlichen die wahren Quellfluten des akustischen Entzückens: Archie Shepp, Cecil Taylor, Gato Barbieri …