Archive for ‘Die Existenz’

31. Mai 2011

Philip Morris gegen Uruguay

US-Tabakkonzern klagt gegen staatliches Nichtrauchergesetz – Land erhält internationale Unterstützung

Uruguay versus Philip Morris, „David gegen Goliath“. So titelten Zeitungen in dem kleinen Land am Rio de la Plata am Mittwoch, dem ersten Prozesstag des US-Tabakgiganten gegen den uruguayischen Staat. Anlass ist das seit 2006 dort geltende Nichtrauchergesetz, das Rauchen in geschlossenen Räumen verbietet, die Steuern drastisch erhöht hat und strikte Vermarktungsregeln vorschreibt.

So ist die Aufschrift „light“ verboten, und 80 Prozent des Platzes auf der Zigarettenschachtel sind für die Warnung vor den Gefahren des Rauchens reserviert. Das verletzt nach Auffassung des Tabakkonzerns seine Markenrechte und ein Investitionsschutzabkommen mit Uruguay. Treibend für das erste Gesetz dieser Art in Lateinamerika war Tabaré Vazquez, damaliger Präsident und Krebsspezialist.

Zahl der Raucher sank um sieben Prozentpunkte

Bei der nichtöffentlichen Videokonferenz vor dem Internationalen Schiedsgericht für Investitionsfragen in Paris wurden nach Angaben der uruguayischen Regierung formale Punkte geklärt und der Weg für erste Vorladungen freigemacht.

Philip Morris lehnte eine Stellungnahme ab. Angeblich verlangt die Firma zwei Milliarden Dollar (1,4 Mrd. Euro) Schadenersatz. Der Konzern argumentiert, er habe sieben seiner zwölf Marken aufgrund des Gesetzes vom Markt nehmen müssen. Das habe nicht der Volksgesundheit gedient, sondern lediglich lokalen Konkurrenzmarken genützt.

Die uruguayische Regierung verweist auf ihre Fürsorgepflicht für die Bürger. „Wir sind der Auffassung, dass Regierungen derartige hoheitliche Entscheidungen treffen können, und dies sowohl völkerrechtlich abgedeckt ist als auch vom Investitionsschutzabkommen“, sagte Präsidialamtsleiter Diego Canepa. Nach offiziellen Angaben sank die Zahl der Raucher von 32 auf 25 Prozent, bei Jugendlichen von 32 auf 18 Prozent.

Uruguays BIP liegt bei Philip Morris‘ Halbjahresmusatz

Als eines der Länder, das am striktesten die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegen das Rauchen umsetzt, wird Urugay von dieser unterstützt. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg spendete dem Land 500.000 Dollar (352.600 Euro) für das Verfahren, das nach offiziellen Schätzungen umgerechnet bis zu 2,8 Mio. Euro kosten und mindestens zwei Jahre dauern wird.

Uruguay hofft auf Unterstützung weiterer Länder. Sein Bruttoinlandsprodukt liegt bei 31 Mrd. Dollar (21,9 Mrd. Euro) – Philip Morris macht jährlich doppelt so viel Umsatz. Eduardo Blanco, urugayischer Kardiologe, glaubt, dass der Konzern bewusst einen kleinen, finanzschwachen Gegner erwählt hat, um ein Exempel zu statuieren, wie er der BBC sagte.

Sandra Weiss

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23. Mai 2011

Wie der Nachtschwärmer zum senilen Bettflüchter wird

Der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich mit dem Alter kontinuierlich nach vorne – Schweizer Forscher haben sich angesehen, woran das liegt

Der Fachausdruck für die innere Uhr lautet zirkadianer Schrittmacher, sitzt im sogenannten Nucleus suprachiasmaticus des Gehirns und befindet sich in steter Verbindung mit Taktgebern in den Körperzellen. Diesen Rhythmusgebern ist es zu verdanken, dass die meisten Menschen, je nach dem über welche genetischen Grundlagen sie verfügen, entweder als Lerche, sprich: Frühaufsteher, oder als Eule, also Morgenmuffel, durch einen Teil ihres Lebens gehen.

Ab dem 20. Lebensjahr tritt allerdings eine allmähliche Veränderung ein: der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich kontinuierlich Richtung früher, bis wir im Alter an der berühmten frühmorgendlichen senilen Bettflucht leiden. Schweizer Wissenschafter sind nun der Frage nachgegangen, welche Faktoren für den Wechsel im Ablauf der inneren Uhr verantwortlich sind. Die Antwort fanden sie im Blut.

„Sklaven-Uhren“ in den Zellen

Biologische Uhren kontrollieren eine Vielzahl tagesrhythmischer Prozesse wie Schlaf, Körpertemperatur, Blutdruck, Hormonausschüttung und Verdauung. Diese Aktivitäten werden von zirkadianen Schrittmachern gesteuert. Diese werden durch das Licht, das durch die Augen einfällt, synchronisiert und kommunizieren mit anderen Uhren, den sogenannten „Sklaven-Uhren“, die in den meisten Zellen unseres Körpers vorkommen.

Diese Zellen stellen die für die zirkadiane Rhythmik (den inneren Rhythmus, die innere Uhr) wichtigen Uhren-Gene dar. Die Uhren-Gene und die von ihnen codierten Proteine wirken in einer komplexen negativen Rückkopplungsschleife zusammen und sie generieren zelluläre molekulare Rhythmen. Ein zirkadianer Rhythmus besitzt eine Periodenlänge von rund 24 Stunden. Die Periodenlänge der inneren Uhr hängt von der genetischen Ausstattung ab. Zudem ist es möglich, Organismen zu züchten, die aufgrund unterschiedlicher Mutationen in Uhren-Genen eine interne Uhr mit längerer oder kürzerer Periodenlänge haben.

Von der Nachteule zum senilen Bettflüchter

Bei Menschen können zwei Hauptkategorien von Chronotypen unterschieden werden: Der Lerchentyp ist frühmorgens frisch und munter, der Eulentyp blüht viel später auf. Interessanterweise verändert sich mit zunehmendem Alter der Chronotypus und die Periodenlänge der inneren Uhr nimmt ab. Ungefähr ab dem 20. Lebensjahr, nachdem während der Pubertät die innere Uhr auf nachtaktiv gepolt war, erfährt sie einen Wendepunkt, indem sie sich dann nach und nach Richtung früher verschiebt bis wir – im Alter – an der berühmten senilen Bettflucht leiden.

Der Frage, warum dieses Phänomen im Alter auftritt, sind nun Wissenschafter von der Universität Basel und der Universität Zürich nachgegangen und haben in einer Studie die molekularen Mechanismen dieser altersabhängigen chronobiologischen Veränderung untersucht. Aufgrund der Tatsache, dass eine zirkadiane Uhr in den meisten unserer Zellen, also auch in peripheren Zellen existiert, wurde eine neue von Brown entwickelte Untersuchungsmethode genutzt, nämlich die Gewinnung und Kultivierung peripherer Zellen einzelner Versuchspersonen, um die molekularen genetischen Eigenschaften der individuellen Uhren bestimmen zu können.

Leuchtende Taktgeber durch Feuerfliegen-Gene

Im Rahmen der Studie wurde 18 jungen (21-30 Jahre) und 18 älteren Versuchspersonen (60-88 Jahre) eine winzige Hautbiopsie entnommen. Die gewonnenen humanen Primärkultursysteme wurden mit einem Gen der Feuerfliege so modifiziert, dass sie Licht (Biolumineszenz) emittieren können. Da die Expression des Feuerfliegengens von einem Uhren-Gen (Bmal-1) kontrolliert wird, kann somit dessen zirkadiane Aktivität visualisiert werden.

Die individuellen rhythmischen Expressionsmuster der Fibroblastenkulturen von jungen und älteren Spendern wurden über 5 Tage erfasst. Somit war es möglich, individuelle zirkadiane Perioden am Menschen ex vivo/in vitro zu analysieren. Die Forscher fanden heraus, dass im Gegensatz zu den gut dokumentierten altersabhängigen Änderungen im Schlafverhalten, die zirkadiane Periodenlänge in Fibroblasten von jungen und älteren Spendern in vitro nicht verändert war.

Faktoren im Blut

Interessanterweise änderte sich dieses Verhalten jedoch, wenn die gleichen Zellen – egal ob „jung oder „alt“ – mit humanem Serum, das von älteren Personen stammte, statt mit Standardserum (FSC) behandelt wurden. In Analogie zu den in-vivo-Daten reagierten die Zellen mit einer Verkürzung ihrer Periodenlänge. Die Verkürzung trat jedoch nicht auf, wenn Serum von jungen Kontrollpersonen verwendet wurde.

Die Studiendaten zeigten damit erstmalig, dass das Zusammenspiel der molekularen Komponenten der inneren Uhr im Alter nicht per se verändert ist. Die Studienmacher/innen vermuten, dass zirkulierende thermolabile Faktoren für die Modulation der zirkadianen Rhythmik im Alter verantwortlich sind. Diese sind hormonellen Ursprungs und könnten damit auch durch pharmakologische Interventionen behandelbar sein.

Abstract
PNAS: Serum factors in older individuals change cellular clock properties

23. Mai 2011

Mateschitz bringt Sohn als Nachfolger ins Spiel

(c) sueddeutsche

Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, 67, hat einen „Nachfolger im Sinn“, schreibt das US-Wirtschaftsmagazin „Bloomberg Businessweek“ in seiner aktuellen Ausgabe. Im Gespräch mit der „Businessweek“ bringt der Red-Bull-Chef seinen Sohn Mark ins Spiel: „Mein 19-jähriger Sohn wird nach Beendigung seiner Ausbildung in das Unternehmen einsteigen, wenn er will und wenn die Zeit reif ist.“

Anfang April hatte das Wirtschaftsmagazin „trend“ berichtet, dass der Sohn des Red-Bull-Gründers eine erste Funktion im Firmengeflecht des Vaters übernommen hat. „Seit Jänner ist er Co-Geschäftsführer und Co-Gesellschafter der Dietrich Mateschitz Verwaltungs OG, die einen Mini-Anteil an der 2005 erworbenen Gesellschaft Braun & Co. hält“, schreibt das Magazin. Ansonsten sind in der Gesellschaft aber keine anderen Firmenanteile von Mateschitz geparkt.

Der Anteil sei ein „aus vertraglichen Gründen zustande gekommener symbolischer Anteil“ und sei „ausschließlich privater Natur“ und „hat nichts mit Red Bull zu tun“, erklärte damals die Red-Bull-Pressestelle gegenüber dem „trend“.

Im Jahr 2004 hatte sich Mateschitz in einem seiner selten Interviews gegenüber dem Schweizer Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ zur Frage seiner Nachfolge wie folgt geäußert: „Red Bull ist eine GmbH, in der ich Gesellschafter bin. So wird es bleiben, bis ich beurteilen kann, ob mein Sohn die Nachfolge antreten möchte und kann.“

Als Erfinder der Red-Bull-Rezeptur hält die thailändische Unternehmerfamilie Yoovidhya 51 Prozent am Unternehmen. Dietrich Mateschitz besitzt 49 Prozent an der Red Bull GmbH.

Der Energydrink-Konzern hat im Geschäftsjahr 2010 das bestes Ergebnis seiner Geschichte erzielt: Der Unternehmensumsatz legte im Vergleich zu 2009 um 15,8 Prozent auf 3,79 Mrd. Euro zu. Der Absatz stieg um 7,6 Prozent auf 4,2 Milliarden Dosen. Die Expansion geht aber noch weiter: Für das zweite bis dritte Quartal 2011 ist der Markteintritt in China geplant. Derzeit wartet man bei Red Bull noch auf die behördliche Zulassung.

16. November 2010

Einer, der sich nicht zähmen ließ

Der in Paris lebende Schweizer Schriftsteller Paul Nizon wird am Montag mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet

Zürich 1974: Es war ein warmer, fast vorsommerlicher Apriltag, als Federico Fellinis Film Amarcord über (s)eine Jugend im faschistischen Rimini in den Schweizer Kinos anlief und Paul Nizon, den der italienische Regisseur lange schon „wie ein Stern“ begleitet hatte, im Zürcher Tagesanzeiger schrieb: „Fellini erfindet keine Filme. Er zeigt , das Leben‘, er zeigt es in seiner anarchischen Wildheit und blendet es an in seiner Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, (…). Es ist das gewöhnliche Leben von jedermann, aber in seinen Filmen wird es zur atemberaubenden Saga. Er (Fellini) ist der Clown, der ihnen für Momente und Stunden die Augen öffnet, bevor er sie wieder entlässt. Er hat sie zum Lachen und Weinen gebracht, er hat sie gerührt, durcheinandergebracht und erschüttert. Er hat sie in den Reigen gespannt. Sie werden sich noch eine Weile ,erinnern‘ an ,das Leben‘.“

Vieles, was Nizon über Fellinis Film schreibt, nahm und nimmt er auch für seine eigene Arbeit als Schriftsteller in Anspruch: die Feier der Liebe und des Augenblicks, die Glückssuche, das Jagen nach dem „richtigen“ Leben, dem einen, das nottut, die Amalgamierung von Erinnerung und Gegenwart, das Beharren auf Glanz und einer poetischen Weltsicht, auch wenn die Zeichen anders stehen.

Ein Jahr zuvor, Ostersamstag 1973, hatte Nizon in seinem Journal notiert: „Ungeheure Tiefs mit finsterster Bedrückung, geballte Aggression und viel Lethargie, die ganzen Tage durch.“ Und in der Tat waren die letzten Jahre, das letzte Jahrzehnt eigentlich, schwierig gewesen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und den Job als leitender Kunstkritiker der NZZ, Familie und Sicherheit in die Waagschale geworfen, um Schriftsteller zu werden. Der Erfolg stellte sich zögerlich ein – und Nizon tat das, was er in solchen Situationen immer tut: „Durchhalten. Weitergehen.“

Wiederum 36 Jahre später, 2009, Nizon lebte mittlerweile schon mehr als drei Jahrzehnte in Paris, sollte es dann dieser 1929 in Bern als Sohn eines russischen Emigranten und einer Schweizerin geborene Autor sein, dem als erstem noch lebenden Schriftsteller (später folgten ihm Hans Magnus Enzensberger und Amos Oz) die Ehre zuteilwurde, mit einem 1500 Seiten umfassenden Band mit allen bisher geschriebenen Erzählungen, Romanen und Journalen in der renommierten Quarto-Reihe des Suhrkamp Verlags zu erscheinen – und in dieser Bibliothek der „Weltliteratur und des Wissens“ in einer Reihe mit Autoren wie Foucault, Brecht, Joyce, Bernhard, Marguerite Duras, Cioran, Frisch und Kafka zu stehen.

Undressierbar

Zu Recht, wie viele meinten – auch als Nizon mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet wurde, der ihm am Montag von Bundesministerin Schmied übergeben wird. Nizon ist hier kein Unbekannter: Elias Canetti war sein Trauzeuge, mit Max Frisch und Ingeborg Bachmann war er befreundet, wenn er in Österreich las, reiste Thomas Bernhard an, H. C. Artmann besuchte ihn in Paris, und Handke sieht Nizon als einen „der am wenigsten dressierten Schriftsteller, inmitten der zunehmenden Dressiertheit, Fremdgelenktheit der anderen; undressierbar“.

Undressierbar: Nizon trug in den 1960er-Jahren, als man deswegen bei Linken und Progressiven definitiv noch auf die Reaktionärs-Liste kam, Anzug und Krawatte, posierte mit Zigarette im Mundwinkel in Filmstarmanier auf einer Seine-Brücke für Fotografen – natürlich im Trenchcoat samt Sonnenbrille -, schrieb zu einer Zeit, als von Schriftstellern politische Statements und Themen erwartet wurden, über Persönliches und Erotik (was er immer noch tut) – und tönte dabei großartig, sein Platz unter der Sonne sei im Nachtlokal. Er legte sich mit Kritikern an und verhielt sich insgesamt wie ein Boxer, der in der neunten Runde merkt, dass er nur verlieren kann. Es sei denn, er landet einen Lucky Punch.

Nicht wenige Schweizer Schriftsteller der mittleren Generation, etwa Hansjörg Schertenleib oder Silvio Blatter, sagen, Nizon habe sie zu Lesern gemacht – zu Schriftstellern sowieso. Und der NZZ-Kritiker Samuel Moser schreibt, Nizon sei einer, der sich nicht einfangen lasse: „Früher nicht, jetzt nicht, nie.“ Was stimmt, allerdings hat die Schriftsteller-Inszenierung Nizons Werk mehr geschadet, als sie ihm nützte, und wenn man sich an den Lou- Reed-Sager hält, dass es besser sei, nichts von dem, was man hört, und die Hälfte dessen, was man sieht, zu glauben, und das Äußere der schillernden Autorenfigur ausblendet, ergibt sich bei der Lektüre der Werke Nizons ein anderes, differenzierteres Bild.

Nämlich das einer Schriftstellerpersönlichkeit, die sich als „Autobiografiefiktionär“ im wahrsten Sinn das Leben erschreibt und schreibend sich selbst, nein, dem Leben auf der Spur ist. Es werden bei der Lektüre die Konturen eines Ich sichtbar, das um eine poetische Weltsicht kämpft, um ein Schreibleben, um jedes Buch, um jeden Satz, „der sozusagen ein Heimkehrer aus dem Krieg sein muss, der überleben konnte“.

Das Unterwegssein und Nichtankommenkönnen sind Grundmotive in Nizons Werk, dem auch das Ringen um Schönheit, Form und der Kampf gegen die Auflösung, das drohende Nichts eingeschrieben sind. In kreisenden Suchbewegungen skizziert dieser Autor, der sich in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Am Schreiben gehen (1985) als „Lebenssucher“ bezeichnet, mit existenzieller Wucht und federleichtem Stil Ausgänge aus einer vom Ich als beengend und lebenstötend empfundenen Welt. In exemplarischer Weise schreibt Nizon, oft anhand des eigenen Lebens, über das Ringen um Helligkeit und Schönheit, die für ihn im schöpferischen Akt der Sprache, im Alltag und in der Liebe gefunden werden können.

Das hat in seiner existenziellen, radikalen Ausrichtung in der heutigen Zeit fast schon etwas Romantisches, etwas Tröstliches auch.

Berühmt, nicht erfolgreich

Obwohl er sich in Frankreich – vor allem mit den großen Parisromanen Jahr der Liebe (1981, ein Mann, der neu in der Stadt ist, beginnt, ausgehend von einem Pariser Hinterzimmer, sein Leben neu), Im Bauch des Wals (1989, in dem sich die Leitmotive der Suche nach dem Leben, der Gegenwart der Stadt und der Frauen wiederfinden), Hund Beichte am Mittag (1998, ein Streuner, der alles hinter sich ließ, wendet sich der Vergangenheit zu) und Das Fell der Forelle (2005, über einen Liebesversehrten, der aus Welt und Zeit fällt) – Kultstatus erschrieb, halten sich die Auflagen seiner Bücher in engen Grenzen (Wal 10.000, Jahr der Liebe 20.000, Hund 13.000).

Im deutschen Sprachraum sieht es ähnlich, eher schlechter aus. Hier ist er, obwohl seine Bücher etwa in Hamburg zur Schullektüre zählen und es in jeder Runde, in der über Literatur geredet wird, einen (seltener eine) gibt, der oder die alles von diesem Autor gelesen hat, unterschätzt geblieben.

Er sei ein „berühmter, erfolgloser Schriftsteller“, sagte Nizon vergangenes Jahr. Warum? Im Interview mit dem Standard meint er dazu: „Mein Schreiben ist eine auf Selbstfindung, Positionierung und Haltsuche angelegte individualistische Arbeit. Eine Jagd auf mich selbst. Vielleicht hat die Verhinderung, mit dem großen Publikum Kontakt aufzunehmen, mit diesem selbstausgräberischen Element zu tun, das nicht jedermanns Sache ist. Im Grunde genommen verfertige ich, wenn ich schreibe, ein Einzelstück. Ich wende mich an ein Leser-Du – und nicht an einen großen Markt.“

Und Houellebecq, der mit seinem neuen, soeben mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman La carte et le territoire in Frankreich gerade wieder für Furore sorgt? Nizon: „Ich habe den Roman gelesen, und er hat mich gefangen genommen. Michel Houellebecq hat allerdings eine vollkommen andere Weltsicht, die mit Poesie nicht unbedingt viel zu tun hat. Seine Bücher laufen sehr gut, sie sind von ihrer epischen Struktur her für ein großes Publikum geschrieben, sie richten sich nicht an den eigenen inneren Menschen oder einen Partner. Sie sind marktgängig, aber von einem sehr respektablen Niveau.“

Zu tun hat die für die Qualität dieser Literatur erstaunlich geringe Verbreitung der Werke Nizons vielleicht auch mit dem Etikett „Männerliteratur“, das relativ schnell auf Nizons Bücher, in denen öfter „maisons de rendez-vous“ besucht werden, gestempelt wurde. Zudem lehnt es dieser Autor ab, lineare Geschichten, zu schreiben: Vielmehr sind seine Bücher nach musikalischen Prinzipien konzipiert und komponiert, mit verschiedenen Tempi, Auftakten und wiederkehrenden Motiven. Und nachdem er es sich mit den deutschen Kritikern verdorben hatte, machte er sich in der Schweiz mit seinem Langessay Diskurs in der Enge (1970) schließlich auch keine Freunde. Während Walter Benjamin – mit Blick auf Robert Walser – einmal vermutet hatte, helvetische Literaturarbeit sei das Ergebnis „keuschen, kunstvollen Ungeschicks in allen Dingen der Sprache“, weitete Nizon in Diskurs in der Enge diese These aus. Die schweizerische Kunst sei provinziell, es fehle ihr an Welthaltigkeit und Urbanität. Die Schweiz lehne jede Partizipation mit der übrigen Welt ab, mit Ausnahme jener durch unsichtbare Finanzverflechtungen. Der Oberteufel heiße Utopie, Stoffe gebe es nur für den Psychiater, und das Land sei insgesamt ein „Avantgardist des Todes“.

Nicht nur in Nizons Büchern, deren Schauplätze Bern, Rom, der Spessart, Barcelona und Paris, immer wieder Paris sind, ist das Grenzüberschreitende wichtig, es ist dem Autor in die Familiengeschichte geschrieben. Deshalb hält er auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur nicht nur finanziell (25.000 Euro) für den bedeutendsten Preis, mit dem er ausgezeichnet wurde. Nizon: „Dass es eine europäische Auszeichnung ist, freut mich ungeheuer. Mein Vater war Russe, ich wuchs mit italienischen und spanischen Emigrantenkindern auf, die Eltern meines Vaters sind in London begraben, wo ich zwei Jahre lebte und meine Tochter, die in erster Ehe mit einem Engländer verheiratet war, studierte. Meine Schwester wurde durch Heirat Italienerin, ein Sohn lebt in den USA.“

Das hat Nizons Blick auf Gesellschaftliches geschärft. Zwar gilt der passionierte Zeitungsleser als unpolitisch, in seinem subversiven Beharren auf Subjektivität und Individualität ist er aber politischer als manch „Engagierter“. Vor allem der Regierungschef seiner Wahlheimat, Nicolas Sarkozy, ist ihm ein Dorn im Auge.

So gab er einer Schweizer Zeitung zu Protokoll: „Eine geistlose Managerregierung. Ein Präsident wie der Schneider im Himmel, (….) ein Hampelmann an der Spitze, unbefleckt von Kultur, von Format. Was doch immerhin noch eine Rolle spielte bei einem Landesvater wie Chirac, der zwar als politischer Serienkiller verschrien war; aber er war kein Parvenu, er hatte doch so etwas wie Postur, Humanität, und er war letztlich eine vertrauenswürdige bürgerliche Figur, auch wenn er hie und da in die Staatskasse griff. Während der jetzige eine französische Karikatur von Berlusconi ist, wenn man das so sagen kann.

Wenn die reale Macht auch woanders liegen mag als bei den Regierungen, so färbt die Mentalität der Regierenden doch sehr auf die allgemeine Lebenslage ab. Unter Mitterand, der eine Sphinx war, ein Künstler der Macht, aber eine wirklich große kulturelle Persönlichkeit, war man anders beschirmt als bei diesem kleinformatigen Ubu.“

Bilder

„Ich kann es nicht sagen, mein Vater, vielleicht kann ich’s reisen“, heißt es in Nizons ungestümem Erstlingsroman Canto (1963), einem Vater- und Rombuch, das in seiner offenen Form mit nichts damals im deutschen Sprachraum Bekanntem vergleichbar ist, und Protokoll einer Reise lautet der Untertitel der Erzählung Untertauchen, die von einem Mann handelt, der im Auftrag seiner Zeitung nach Barcelona fährt und dort seiner bürgerlichen Existenz verlustig geht, indem er sich der Liebe hingibt, fraglos, selbst- und pflichtvergessen, ohne Reserve, bedingungslos, bis zur Erschöpfung. Dafür muss man bezahlen in unserer Welt.

Vielleicht hat aber bei Nizon, der einmal sagte, er hoffe, seine Bücher würden im Leser aufgehen, „wie sich japanische Papierblumen im Wasser öffnen“, alles nicht mit den Worten, die für ihn die Welt bedeuten, sondern mit Bildern, der Sprachlosigkeit, begonnen: mit dem Bild des Vaters, eines Chemikers und erfolgreichen Erfinders, der in der riesigen Berner Wohnung verdämmert und früh an multipler Sklerose stirbt – ein Schock für den 13-jährigen Nizon, der ein Jahr lang in der Schule überhaupt nicht mehr „funktioniert“. Mit dem Bild von arbeitenden Frauen, Mutter und Tante, welche die zwanzig Zimmer der Wohnung zur Pension umfunktionieren mussten. Mit dem Bild des gartenreichen Länggassquartiers, Nizon wird es einmal das „Revier des Falken“ nennen, durch das in sanften Schwaden Schokoladegeruch der nahegelegenen Toblerfabrik zog. Mit dem Bild des jungen Mädchens schließlich, in das sich der 12-jährige Gymnasiast verliebt und das ihm auf die Frage, ob es mit ihm gehen möchte, antwortete: „Ich muss es mir überlegen.“

Es sind diese Bilder, die sich durch Nizons erste Bücher Canto, Im Hause enden die Geschichten (1971), Untertauchen (1972) und auch Stolz (1975), einen Roman über die Ich-Gefangenschaft des titelgebenden Helden, der nicht zufällig an Büchners Lenz erinnert, ziehen. Später kamen andere Bilder hinzu, bewegte von Cassavetes und Fellini (ein großer Kinogänger ist Nizon noch jetzt) und statische von Chaim Soutine, Giacometti und Van Gogh, über den Nizon nach seinem Kunstgeschichtestudium promovierte.

Nimmt man nun den Quarto-Band, einen dicken Ziegel, zur Hand, der fast das gesamte Werk dieses singulären Schriftstellers umfasst, wird klar, dass zwischen Nizons Erstling, dem Erzählband Die gleitenden Plätze (1959), und seinem bislang letzten Roman Das Fell der Forelle Meilen liegen – und ein ganzes Leben. Das Leben eines Menschen, der nie eingestiegen und doch immer wieder ausgebrochen ist, der daran glaubt, dass man nur aus einer starken Emotionalität, aus einer großen Teilnahme – „das heißt entweder aus Liebe oder Hass“ – schreiben kann, und der sich lange mit dem Weggehen, Grenzüberschreiten, Verlassen aufhielt.

Dichtung

Dürrenmatt schrieb in einem Brief: „Ich denke oft an dich. Ich sehe dich finster und verschlossen in Paris herumlaufen. (…) Indem ich in deinem Untertauchen lese, wird mir deutlich, was bleibt, was Bild geworden ist, was, damit es Bild geworden ist, wieder zum Wort werden kann, ist Erinnerung, und ich meine damit das Gegenteil von Erdichtung: sind doch gerade die meisten Erinnerungen Erdichtungen, oft großartige: Proust. Reine Erinnerungen aber sind Dichtungen, das heißt nicht Sprachlust, Beschwörung, Wortmagie, sondern das Fallenlassen der Gründe, die ja in der Erinnerung gleichgültig werden, so gleichgültig wie die Zwecke. Doch für die Erinnerung zahlen wir mit Leben, und um zu leben, verbrauchen wir uns, unsere Zeit. Der Tribut, den du entrichten musst, ist verdammt teuer, mag das Resultat noch so kostbar sein.“

Paul Nizon, für den Schreiben etwas Körperliches ist, ging weite Wege, ausgesetzt dem Sirren der Stadt, der Verzweiflung, dem Glück, der Liebe und der lautlosen Explosion der Knospen im Frühling. „Ich bin nicht hier und dort und anderswo. Ich bin nur hier“, heißt es im Bauch des Wals. Daher ist für Nizon immer das jeweils nächste Buch, Der Nagel im Kopf lautet sein Arbeitstitel, das wichtigste. Nizon wird seiner Maxime, die er früh schon in einem Essay formulierte, auch in diesem Werk treu bleiben: „Meine heutige Vorstellung von einem Buch ist diese: Dinge des Lebens ohne Gerüst als eine Art Alltag in die Seiten einschwärmen lassen. Das Ganze filtern und zur Partitur verwandeln, bis es zur Stimme erstarkt und den Ton der unerhörten Kunde gewinnt, den Einmaligkeits- und Allgemeinwert mit drängenden Untertönen des Erinnerns. Es wäre bezeugt von einem authentischen Menschen, dem sich die Zunge löst. Ich schreibe in allen meinen Büchern am selben Buch. Es ist das Buch des Lebens. Viele vor mir haben damit begonnen, ich mache weiter, andere werden es fortführen.“

16. November 2010

Lautverzückungen eines dichtenden Griesgrams

Mit seiner intermedialen Ausstellung „Die Ernst Jandl Show“ huldigt das Wien Museum dem größten Lautanarchisten, den Nachkriegsösterrreich hervorgebracht hat: vor allem ein Ohrenschmaus

Als zentrale Instanz in Lautgebungsfragen besaß der Wiener Dichter Ernst Jandl (1925- 2000) das Prestige eines Musikers: Und so ist auch die als Sonderschau des Wien Museums angelaufene „Ernst Jandl Show“ vor allem ein elektrisierendes akustisches Wechselbad.

In zahlreichen Klangwolken umschmeichelt den Besucher Jandls sonores Pädagogenorgan. Obzwar er zeitlebens dem Ideal der Jazz-Improvisation verpflichtet war, flackert in Jandls zum Brüllen komischen Artikulationsübungen der Ungeist einer überwundenen Epoche auf.

Jandl, der Jahrhundertautor von Lautgedichten wie „schtzngrmm“ und „ottos mops“, hatte Grammatik und Tongebung der Unmenschen genauestens studiert. War es deren unausgesprochenes Ziel, die „deutschen Volksgenossen“ niederzubrüllen, um sie möglichst gefügig zu machen, so entdeckte Jandl in der Schärfe der freien Artikulation das Moment der Freiheit. Der Lautdichter Jandl ist ein Prophet der von der Last verhängnisvoller Autoritäten befreiten menschlichen Stimme.

Klangerregungsspuren

So konnte Wien-Museum-Direktor Wolfgang Kos im Verein mit den Kuratoren Bernhard Fetz und Hannes Schweiger vom Anrichten einer „Jandl-Suppe“ erzählen: Die Auswertung des 170 Umzugskartons umfassenden Jandl-Nachlasses – der Dichter hatte ihn noch zu Lebzeiten dem Österreichischen Literaturarchiv vermacht – förderte Partituren, Notate, Stimmführungsprotokolle und allerlei Tondokumente zutage. Jandls Stimme, schrieb der Schweizer Jürg Laederach, gleiche „mehreren noch zu erfindenden Instrumenten“.

Die Ausstellung, ein Gemeinschaftsprojekt des Wien Museums mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biografie in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek, präsentiert ein leitmotivisch gegliedertes Sammelsurium. Jandls triumphales Arbeitsversprechen „ich schreie mich frei“ markiert den Bruch mit herkömmlichen Strukturen sprachlicher Sinngebung. Wer „jandelt“, der „sein sprachenkunstler“. Mit Recht spricht Kos von der Einführung des Verbums „jandeln“ in den allgemeinen Sprachgebrauch, analog zu dem allerdings stumpf gewordenen Adjektiv „kafkaesk“.

„jazz me if you can“: Im Rundgang zwischen Pressholzplatten, schwach vergilbten Schriftzeugnissen und schwarz-weiß flackernden Video-Einspielungen tauchen die Alter Ego einer zerrissenen Persönlichkeit auf. Da gibt es Jandl, den bürokratisch korrekten Englischprofessor, der im Tweedsakko auf die Wahrung bürgerlicher Umgangsformen achtet. Den Literaturfunktionär, der 1971 in einem Brief an den damaligen Bundeskanzler Kreisky um die Inaussichtstellung einer größeren Wohnung bittet (Kreisky zeigt in seinem Antwortschreiben „vollstes Verständnis“).

Und da gibt es die aufflackernde Dämonie eines Performers, dessen Lautzerlegungen Großauditorien in rasende Verzückung versetzen konnten. So geschehen in der Londoner Royal Albert Hall 1965, als Jandl dem Beat-Poeten Allen Ginsberg die Show stahl.

Bleibt noch der Sammler: Plattencover, auf dem Boden zum Mosaik zusammengelegt, verdeutlichen die wahren Quellfluten des akustischen Entzückens: Archie Shepp, Cecil Taylor, Gato Barbieri …

13. Februar 2010

Zwölf Milliarden Euro Schwarzgeld aus Österreich in der Schweiz

Das Ausmaß der Steuerhinterziehung in der Schweiz ist laut einer neuen Untersuchung weit größer als bisher vermutet

Das Ausmaß der Steuerhinterziehung in der Schweiz ist laut einer neuen Untersuchung weit größer als bisher vermutet. Demnach versteuern Anleger nur ein Fünftel der Gelder, Österreicher sogar nur ein Zehntel.

Viel Schwarzgeld liegt in der Schweiz. Doch über diese Binsenwahrheit hinaus wusste man bisher wenig über Herkunft und Ausmaß der nicht deklarierten Mittel in der Eidgenossenschaft. Eine neue Untersuchung des auf Finanzrecherchen spezialisierten Genfer Unternehmens Helvea führt nun zu einer Auflistung, die ausländische Steuerbehörden interessieren dürfte. Demnach haben Anleger aus EU-Staaten 862,9 Mrd. Franken in der Schweiz gebunkert. Davon wurden 16 Prozent deklariert.

Nur elf Prozent aus Österreich deklariert

Österreicher horten demnach 20,4 Milliarden Franken im Nachbarland, von denen nur elf Prozent deklariert sind. Die größte Investoren-Community im Bankenparadies stellen nicht ganz überraschend Deutsche dar, die auf 280 Milliarden Franken kommen. Immerhin deklarieren die Deutschen ihr Vermögen zu fast einem Drittel. Die Untersuchung, die dem STANDARD vorliegt, wird wohl für zusätzlichen Gesprächsstoff bei dem für Sonntag anberaumten Treffen der deutschsprachigen Finanzminister sorgen.

Auch die aggressive Vorgangsweise der italienischen Finanz in Sachen Steuerhinterziehung über die Alpen wird mit dem Bericht plausibel. Die Italiener bilden laut Helvea nicht nur die zweitgrößte Gruppe der Anleger in der Schweiz, sondern sind mit 99 Prozent Schwarzgeld gemeinsam mit Griechen die intensivsten Hinterzieher.

Quellensteuer als Basis

Da stellt sich natürlich die Frage, wie das Unternehmen angesichts der hohen Diskretion zu den Zahlen gelangt. Als Basis fungierten die Quellensteuereinnahmen, die zu drei Vierteln an die Finanzämter der Herkunftsländer der ausländischen Investoren überwiesen werden. Aus Durchschnittswerten über Portfolioveranlagungen werden Umgehungsprodukte, bei denen die EU-weite Zinsertragssteuer nicht anfällt, eingerechnet. Damit hätten die Experten einmal die Summe der Gelder geschätzt. Zudem gibt es die Option, die Erträge in die Steuererklärung aufzunehmen. 2007 zählte Helvea 64.516 derartige Fälle. Aus der Häufigkeit dieser Deklarierungen nach Nationalität der Anleger wird in der Untersuchung der Anteil der Schwarzgelder hochgerechnet.

Obwohl der größte Brocken der Schweizer Gelder aus der EU stammt, macht er nur etwas mehr als ein Drittel der insgesamt von Ausländern gebunkerten Mittel von 2,2 Billionen Franken aus. Diese Summe lag 2007 noch bei 3,1 Billionen und ist 2008 infolge der diversen Steueraffären und des verstärkten Drucks internationaler Finanzermittler sowie wegen rückläufiger Wertentwicklung an den Finanzmärkten deutlich zurückgegangen. Laut Schweizer Nationalbank stammen 60 Prozent der in dem Land veranlagten Vermögen aus dem Ausland.

Doch die diversen Steueraffären setzen dem Finanzplatz zu. Die Zahl der Selbstanzeigen bei den deutschen Behörden ist in den vergangenen Tagen einer Umfrage der Nachrichtenagentur DAPD zufolge sprunghaft gestiegen. 850 Anleger wandten sich demnach an die Finanz.

20. Januar 2010

Demokraten verlieren wichtigen Senatssitz

Republikaner Brown gewinnt Nachwahl im Bundesstaat Massachusetts – Geplante Gesundheitsreform ist in Gefahr, da Demokraten nun weniger als 60 Stimmen im Senat halten

Washington – Dramatischer Rückschlag für US-Präsident Barack Obama: Seine Demokraten haben am Dienstag die wichtige Senatsnachwahl im Bundesstaat Massachusetts verloren. Damit verfügt Obama ein Jahr nach seiner Amtsübernahme in der kleineren Kongresskammer nicht mehr über die nötige 60-Stimmen-Mehrheit zur Durchsetzung wichtiger Gesetzesvorhaben. Auch seine Gesundheitsreform ist gefährdet.

Die Wahl hatte sich in den vergangenen Wochen zu einem Votum über die Reform und insgesamt über Obamas erstes Jahr im Weißen Haus entwickelt. Er war am 20. Jänner 2009 vereidigt worden.

Obama unterwegs nach Massachusetts

Nach Auszählung der meisten Stimmen lag der Republikaner Scott Brown (50) uneinholbar mit 52 zu 47 Prozent vor der vor kurzem noch hoch favorisierte demokratischen Kandidatin Martha Coakley (56). Sie räumte noch am Abend in einer Rede ihre Niederlage ein, kündigte eine „schonungslose“ Untersuchung die Ursachen für ihr Scheitern an und gratulierte dem Sieger. Obama war noch am Sonntag nach Massachusetts gereist, um die derzeitige Generalstaatsanwältin zu unterstützen und damit ein drohendes Debakel abzuwenden.

Der Staat ist traditionell eine liberale Hochburg. Bei der Wahl ging es um die Besetzung des Senatssitzes, der durch den Tod des äußerst populären Edward „Ted“ Kennedy im vergangenen Sommer freigeworden war. Er hatte den Sitz seit 1962 inne und eine grundlegende Gesundheitsreform mit einer Krankenversicherung für alle zu seinem Hauptziel gemacht. Vor ihm saß sein Bruder John F. Kennedy auf dem Platz.

Nun drohen Dauerreden

Die magische Zahl von 60 Stimmen ist nötig, um Filibuster (Dauerreden) der Minderheit zur Blockade oder Verzögerung von Gesetzesvorhaben im 100-köpfigen Senat zu verhindern. Bisher verfügten die Demokraten über 58 Mandate, erreichten die sogenannte Super-Mehrheit aber mit Hilfe von zwei Unabhängigen, die eine Fraktionsgemeinschaft mit ihnen bilden und in der Regel mit ihnen stimmen.

So konnte kurz vor Weihnachten eine Republikaner-Blockade der Senatsabstimmung über Obamas Gesundheitsreform durchbrochen werden. Der dann verabschiedete Entwurf unterscheidet sich aber deutlich von einer Vorlage, die das Abgeordnetenhaus gebilligt hat. Seit Anfang des Jahres wurde daher im Vermittlungsausschuss an einem Kompromiss gearbeitet, über den dann beide Kongresskammern erneut abstimmen müssten.

Die Demokraten überlegen nun, wie sie die Gesundheitsreform in ihren Kernpunkten noch retten können, ohne ein neues Votum im Senat zu riskieren. Eine Möglichkeit wäre, dass das Abgeordnetenhaus neu abstimmt, diesmal über die Senatsvorlage. Gibt die Kammer grünes Licht, könnte Obama das Gesetz unterzeichnen. In den USA müssen stets beide Häuser des Kongresses zustimmen, bevor ein Gesetz in Kraft treten kann.

Telegener Kandidat Brown

Noch vor wenigen Wochen hatte Coakleys Wahl als sicher gegolten. Doch innerhalb kurzer Zeit konnte der vordem US-weit kaum bekannte Brown entscheidend an Boden gewinnen. Der äußerst telegene bisherige Staatssenator in Massachusetts hatte in seinem Wahlkampf ganz entscheidend auf den verbreiteten Widerstand gegen die Gesundheitsreform gesetzt, die er selbst strikt ablehnt. Auch Obamas Klimaschutz-Plan mit einer deutlichen Reduzierung der Treibhausgase und die angestrebte Sondersteuer für mit Steuergeldern gerettete Banken will er bei den anstehenden Beratungen in diesem Jahr nicht unterstützen.

Großer Popularitätsverlust Obamas

Coakley ihrerseits hatte sich nach Einschätzung von Beobachtern zu stark auf ihre Favoritenrolle und Verbindungen zum politischen Establishment verlassen. Dagegen absolvierte Brown einen engagierten Wahlkampf, fuhr mit seinem Kleinlaster durch das Land und präsentierte sich als Kandidat des kleinen Mannes.

Die Entwicklung in Massachusetts spiegelt aber auch den schweren Popularitätsverlust Obamas wider. Bei der Vereidigung vor einem Jahr standen laut Umfragen bis zu 70 Prozent der Amerikaner hinter Obama – heute würden ihn nicht einmal mehr die Hälfte der Bürger wiederwählen. Nun müssen Obama und die Demokraten fürchten, dass die Schlappe in Massachusetts eine verheerende Sogwirkung für die Kongresswahlen im November haben wird. Dann stehen das gesamte Repräsentantenhaus sowie ein Drittel der Senatssitze zur Wahl.

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12. Januar 2010

„Dieser Typ hätte uns früher Kaffee gebracht“

Unter den US-Demokraten ist eine neue Rassismus-Debatte entflammt – Im Mittelpunkt: Mehrheitsführer Reid und Ex-Präsident Clinton

Die US-Demokraten werden dieser Tage von einer Rassismus-Debatte eingeholt. Nicht nur der Mehrheitsführer im Senat, Harry Reid, sondern auch der neben Präsident Barack Obama wohl prominenteste Demokrat, Ex-Präsident Bill Clinton, spielen dabei wenig rühmliche Rollen. Während sich Reid nun erwartungsgemäß Schelte von Rechts und Links abholt, wird Clintons viel offensichtlicher mit Chauvinismus kokettierender Spruch in dem jüngst erschienenen Buch „Game Change“ über den Obama-Wahlkampf 2008 enthüllt. Schauplatz der Kontroverse: Blogs.

„Reids Aussage war nicht politisch unkorrekt. Sie war einfach nur dumm“, lässt Washington Post-Kolumnist Colbert King kein gutes Haar an dem 70-jährigen Senator aus Nevada, dem als Mehrheitsführer der US-Demokraten im Washingtoner Senat eine Schlüsselposition in Obamas Amtszeit zukommt. Dabei dürfte Reid sein Fehler anfangs gar nicht aufgefallen sein. Obama schien ihm der ideale Präsident zu sein und die Zeit reif für einen schwarzen Präsidenten, der „nicht diesen Negro-Dialekt spricht, außer wenn er es will“. BBC-Korrespondent Mark Mandell hält Reids Ausspruch keineswegs für rassistisch: „Er hat die Lügen des Landes beschrieben und nicht die Auffassungen unterstützt, die er hervorgehoben hat.“

Kaffeeträger

Der frühere Präsident Bill Clinton hingegen soll, wenn man den Recherchen der Game Change-Autoren Mark Halperin und John Heilemann glaubt, während eines Gesprächs mit dem unlängst verstorbenen Demokraten-Doyen Edward Kennedy 2008 über Obama gelästert und gesagt haben, dass „dieser Typ uns vor ein paar Jahren noch Kaffee gebracht hätte„. Wie die angesehene Washingtoner Zeitschrift Politico auf ihrer Website berichtet, habe Clinton im Vorwahlkampf der Demokraten Stimmung gegen Obama und für seine Ehefrau Hillary Clinton machen wollen. Das Büro des Ex-Präsidenten wollte zu den Vorwürfen keinen Kommentar abgeben.

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5. Januar 2010

Verurteilter Bürgerrechtler legt Berufung ein

Erfolgschancen aber praktisch bei null

Nach seiner Verurteilung zu elf Jahren Gefängnis hat der prominente chinesische Bürgerrechtler Liu Xiaobo Berufung eingelegt. Sein Anwalt Shang Baojun berichtete am Dienstag in Peking, den Antrag bereits vier Tage nach dem Urteil am 25. Dezember eingereicht zu haben. Eine Entscheidung durch das höchste Pekinger Volksgericht sei noch nicht gefallen. „Wir warten immer noch auf eine Mitteilung.“ Es gilt allerdings als aussichtslos, dass das ungewöhnlich hohe Urteil gegen den Ehrenpräsidenten des chinesischen Pen-Clubs unabhängiger Schriftsteller umgeworfen werden sollte.

Der Erste Mittlere Volksgericht hatte den 53-Jährigen wegen Anstiftung zum Umsturz der Staatsgewalt verurteilt. Als Beweise galten seine Mitarbeit an der „Charta 08“, einem Appell für Demokratie und Menschenrechte in China, sowie regimekritische Aufsätze, die Liu Xiaobo im Internet veröffentlicht hatte. Das Urteil hatte international Bestürzung und heftige Kritik ausgelöst. Dem Gericht wurde vorgeworfen, den ehemaligen Universitätsdozenten und Literaturkritiker allein wegen der friedlichen Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung hinter Gitter gebracht zu haben.

5. Januar 2010

Der nackte Mensch

Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung werden Bürgerrechte beschnitten

„Ich kann Ihnen mit aller Klarheit sagen, dass wir diesen Unfug nicht mitmachen.“ 14 Monate ist es her, seit der damalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble den Vorstoß der EU-Kommission ablehnt hat, Körperscanner für Flugpassagiere einzuführen. Nach dem verhinderten Attentatsversuch von Detroit hat Deutschland seinen Widerstand aufgegeben, die Niederlande, Großbritannien wollen auch Nacktscanner einführen. Seit Montag müssen in den USA Passagiere, die aus 14 verdächtigen Ländern kommen, durch dieses Gerät.

In Deutschland gibt es zumindest Debatten: über gesundheitliche Risiken, über den Schutz der Intimsphäre. Zu den Kritikern gehören die Polizeigewerkschaft und der Bund deutscher Kriminalisten. In Österreich gibt es nicht einmal auf politischer Ebene eine Diskussion. Es wird abgewartet – wie so oft. Angesichts bisheriger Erfahrungen ist nicht zu erwarten, dass sich just österreichische Politiker querlegen, wenn nun die EU-Kommission Nacktscanner vorschreibt.

Auf EU-Ebene hat zuletzt Ende November Innenministerin Maria Fekter zwar Kritik am Abkommen zum Austausch von Bankdaten mit den USA geübt. Sie hat das Abkommen dann aber nicht verhindert, sondern sich nur der Stimme enthalten. Experten befürchten, dass Daten weniger zur Terrorabwehr denn zur Wirtschaftsspionage genutzt werden, weil Überweisungen Aufschluss über Geschäftsbeziehungen geben können.

Der Terrorbekämpfung soll auch die Vorratsdatenspeicherung dienen, die heuer in Österreich eingeführt wird. Sechs Monate müssen Telekommunikationsunternehmen Daten aufbewahren, wer via Telefon oder Internet wann, mit wem, wie lange und von wo aus kommuniziert. In Deutschland haben 34.938 Bürger gegen die von der EU vorgeschriebene Speicherung geklagt. In Österreich verlangen zwar einzelne Berufsgruppen wie Anwälte, Journalisten und Ärzte Ausnahmen, eine öffentliche Debatte darüber gibt es aber nicht.

Spanien möchte die gerade übernommene EU-Präsidentschaft nutzen, um seinen Plan voranzutreiben, Daten über mutmaßliche Terroristen zwischen den Staaten auszutauschen. Dabei wurden auch in Österreich seit dem von den USA ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ Überwachungsinstrumente wie die Handy-Ortung massiv ausgebaut.

Das Mindeste, was eine Bürgergesellschaft im Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit bewahren muss, ist das Bewusstsein für den Preis, den sie zahlt. Es ist eine Gratwanderung. Und es sollte darüber diskutiert werden, welche Maßnahmen wirklich notwendig sind. Auch in Österreich. Nacktscannen, das nicht peinlich ist, gibt es nicht, genauso wenig wie eine Datenspeicherung, die die Persönlichkeitsrechte unberührt lässt.

Auch im Falle des gescheiterten Attentäters von Detroit hat es Warnungen gegeben. Letztlich war es Zivilcourage von Passagieren, die den Anschlag verhinderte. Ein Nacktscanner hätte den Sprengstoff, der in der Unterhose versteckt war, nicht entdeckt. In Saudi-Arabien trug ein Attentäter den Sprengstoff im Körperinnern. Viele der Anti-Terror-Maßnahmen schaffen eine Illusion von mehr Sicherheit, mehr nicht. Der Körperscanner bekämpft Angst, aber nicht individuellen Terror, um den Preis der Freiheitseinschränkung aller.

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