Posts tagged ‘Buch’

18. Januar 2010

Die Geschichte von Newton und dem Apfel

Biografisches Manuskript inklusive der berühmten Anekdote über die Inspiration zur Gravitationstheorie online gestellt

Eine der bekanntesten Anekdoten der Wissenschaftsgeschichte ist die von Isaac Newton und dem Apfel: Der Überlieferung zufolge saß der britische Mathematiker, Physiker und Astronom (1643-1727) in einem Garten, als er den Apfel vom Baum fallen sah. Das führte ihn zu der Frage, warum der Apfel stets senkrecht zur Erde falle – und in weiterer Folge zu seiner Theorie von der universellen Gravitation. (Erst später wurden einige Versionen lanciert, denenzufolge ihm der Apfel auf den Kopf gefallen sei.)

Zwei Zeugnisse, wenn man so will, sind davon bis heute erhalten geblieben: Noch heute steht vor dem Trinity College in Cambridge unter dem Zimmer, in dem Newton einst lebte, ein Apfelbaum, bei dem es sich laut Legende um einen Abkömmling des damaligen Baums handelt. Und zweitens existiert ein Manuskript, auf dem die Anekdote festgehalten ist. Sie ist Teil der „Memoirs of Sir Isaac Newton“ von William Stukeley, die 1752 veröffentlicht wurde. Das empfindliche Manuskript wurde bisher in den Archiven der Royal Society aufbewahrt, nun wurde es digitalisiert und ins Internet gestellt.

Unter www.royalsociety.org/turning-the-pages können Nutzer Seiten umblättern, vergrößern und drehen. Außerdem ist der Text an einigen Stellen mit zusätzlichen Kommentaren versehen, wie die Royal Society mitteilte.

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4. Januar 2010

Wenn der Mensch wie Vieh behandelt wird

Infolge des Zweiten Weltkriegs waren Millionen Menschen auf der Flucht. Ein polnisches, nun auch auf Deutsch veröffentlichtes Buch beschreibt das Leid von Deutschen, Polen, Ukrainern und Juden

Frauen in Wintermänteln irren durch die Ruinen einer Stadt. Auf dem Rücken tragen sie Bündel mit Habseligkeiten. An der Hand halten sie kleine Kinder. Der Himmel ist grau verhangen. Alle frieren. Doch wer sind sie? Deutsche auf der Flucht vor der Roten Armee 1945? Polen, kurz vor dem Abtransport zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich 1940? Juden im Warschauer Ghetto 1943? Ukrainer in Lemberg, die ins Innere der Sowjetunion deportiert werden?

Das Titelbild des Atlanten Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung könnte für alle Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa von 1939 bis 1959 stehen. Für die der Polen und Juden, der Deutschen und Ukrainer, der Litauer und Weißrussen, der Tschechen und Slowaken. In Polen wurde das Buch als bestes populärwissenschaftliches Werk des Jahres 2009 mit einem Historikerpreis ausgezeichnet. Nun hat es der Weltbild-Verlag in Augsburg in deutscher Sprache herausgebracht.

Die Vertreibung ist ein Thema, das in Polen immer wieder heftig diskutiert wird. Nicht nur deshalb, weil ein gewaltiger Nachholbedarf besteht: Bis 1989 durfte im kommunistisch regierten Polen weder über die Vertreibung der Deutschen gesprochen werden noch über die Massendeportationen der Polen in die Sowjetunion. Auch die Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber den Juden war ein Tabu, ebenso die Vertreibung der Ukrainer durch die Polen.

Die Ideologie von den „wiedergewonnenen Gebieten im Westen“ sollte darüber hinwegtäuschen, dass Stalin die polnische Kriegsbeute aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 nach Kriegsende behalten durfte. Während in Westdeutschland die Vertriebenen ihre angeblich „ungerechtfertigt hohe Strafe für den Zweiten Weltkrieg“ beklagten, mussten die Polen schweigen. Die eigene Vertreibung aus den „Kresy“, den polnischen Ostgebieten mit den Städten Lemberg, Wilna und Grodno, wurde euphemistisch als „Repatriierung“ bezeichnet. Dabei mussten die meisten Ostpolen 1945 in den von den Deutschen verlassenen Gebieten neu anfangen. In Schlesien, Pommern und Ostpreußen war alles fremd. Von einer „Heimkehr ins Vaterland“ konnte keine Rede sein.

Auch die Geschichtspolitik in Deutschland über den Heimatverlust und das Unrecht der Vertreibung sorgt in Polen immer wieder für Aufregung. Denn die Ersten, die ihre Heimat verloren, waren keine Deutschen. Die Vertreibung begann 1939 mit dem Überfall Hitlers und Stalins auf Polen.

Das Buch zeigt genau dies auf. Hitlers „völkische Flurbereinigung“ begann mit der „Heim ins-Reich“-Politik. Den Balten- und Rumäniendeutschen, den Wolhynien-, Galizien- und Bessarabien-Deutschen, die sich in Trecks auf den Weg machten, hatten die Nazis bessere Bauernhöfe in „Großdeutschland“ versprochen. Im Warthegau wurden Polen und Juden massenweise vertrieben, um Platz für die Siedler zu machen.

Im Kreis Zamosc (Zamosch) in Südostpolen vertrieben die Nazis die Einwohner aus rund 300 Dörfern, verschickten die einen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich, die anderen in KZs und Arbeitslager und ermordeten viele an Ort und Stelle. Die Kinder, so sie blond und blauäugig waren, wurden den Eltern geraubt, mit dem Zug nach Deutschland geschafft und dort an „rassisch einwandfreie SS-Familien“ verteilt.

Während die Deutschen ihren Teil des besetzten Polens mit Ghettos, KZs, Arbeits- und Durchgangslagern überzogen, deportierten die Sowjets aus dem von ihnen besetzten Teil Polens hunderttausende Menschen nach Sibirien. Wie die Deutschen benutzen auch die Sowjets vorwiegend Viehwagons zum Transport der Menschen. Viele starben an Hunger, Kälte, Entkräftung. Die Deutschen ermordeten Polens Elite in „Intelligenzaktionen“, die Sowjets erschossen über 20.000 Reserveoffiziere. Damit wollten Hitler wie Stalin verhindern, dass aus Polen jemals wieder ein souveräner Staat werden könnte.

Im Buch wird auch die Evakuierung, Flucht und Vertreibung der Deutschen in den Westen ausführlich geschildert. Aber auch die Massendeportationen der Deutschen ins Landesinnere der Sowjetunion 1944 und 1945 kommen nicht zu kurz. Zahlreiche Karten zeigen den sich immer weiter nach Westen schiebenden Frontverlauf und die Fluchtwege. Knapp 7,5 Millionen Deutsche flohen 1944/45 aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches in den Westen oder wurden später von Polen und Russen vertrieben.

600.000 bis 1,2 Millionen Menschen fanden dabei den Tod. Die Gauleiter hatten viel zu spät den Befehl zur Evakuierung gegeben. Viele Frauen und Kinder mussten sich mitten im Winter mit Pferdewagen oder zu Fuß auf den Weg machen. Ohne Beschönigung beschreiben die polnischen Autoren aber auch, wie es in den Lagern für Deutsche vor der endgültigen Aussiedlung aussah.

Das Kapitel über die deutschen Vertriebenen endet mit der „Aktion Familienzusammenführung“: Rund 350.000 Personen verließen in den Jahren 1950 bis 1959 Polen.

Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Ost- und Mitteleuropa 1939 bis 1959. Von Grzegorz Hryciuk, Malgorzata Ruchniewicz, Bozena Szaynok, Andrzej Zbikowski, aus dem Polnischen von Werner Hoelscher-Valtchuk. Weltbild, 253 Seiten, 14,95 Euro

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4. Januar 2010

Der Zeitgenosse unserer Träume

In den ersten Tagen des Jahres 1960 starb der große Albert Camus. Die Kraft seiner Literatur kommt aus der Einfachheit – und aus der Einsamkeit.

© STF/AFP/Getty Images

Der 4. Januar 1960 ist ein grauer, regnerischer Montag. Der Himmel hängt wie ein klammer weißer Handschuh dicht über der Erde. Seit einem Jahr lebt Albert Camus in der Grande Rue de l’Église in Lourmarin. Ein Haus auf dem Land! Sein Traum seit vielen Jahren. Ein Stück eigenes Leben, irgendwo in Algerien oder in der Provence.

Davon hat er schon als 18-Jähriger geschwärmt. Er musste erst Nobelpreisträger werden, um es endlich zu bekommen. Das Landhaus in Lourmarin, nicht weit vom Haus seines Freundes, des großen französischen Dichters René Char, liegt im Vaucluse, 59 Kilometer von Avignon entfernt. Es ist sein Rückzugsort, sein Miniaturgriechenland oder einfach »die schönste Gegend der Welt«.

Von der Terrasse seines Hauses aus sieht er auf die Zypressen des Dorffriedhofs. Hier sitzt er seit ein paar Monaten allein in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock und schreibt an seinem Roman Der erste Mensch. Nach Paris möchte er nicht zurück. Aber er leidet unter der Einsamkeit. Der kleine Esel im Stall vor dem Haus ist seine einzige Gesellschaft. Außer zum Mittagessen im Hotel Ollier sieht der Schriftsteller niemand.

Seit Tagen starrt er auf die zunehmend kahle Landschaft vor seinem Fenster und auf das weiße Blatt auf seinem Tisch. Wenn ihn Freunde besuchen, klagt er: »Ich habe erst ein Drittel meines Werks geschrieben. Eigentlich fängt es mit diesem Buch erst an.«

Er ist 46 Jahre alt und bildet sich ein, erst jetzt auf dem Land in Lourmarin zu einer Wahrheit in seinem Leben zu finden und zuvor in Algier, in Oran, in Lyon, in Paris in einer Art Lüge gelebt zu haben. Er atmet freier, erwähnt in seinen sonst so spröden Tagebüchern die wunderbaren, von Regenwasser beschwerten Rosen im Garten, den Rosmarin und die Schwertlilien.

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17. Dezember 2009

Die Rückkehr der Theatermacher

Über ein Vierteljahrhundert lang befetzten einander Autor Thomas Bernhard und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld in privater Korrespondenz – Mit „Der Briefwechsel“ liegt dieses Match nun in Buchform vor

Spätestens ab dem 7. November 1984 war mit einem an seinen Verleger Siegfried Unseld gerichteten Schreiben ein Zerwürfnis begründet, das gut vier Jahre später sein für den heutigen Leser zumindest von der Lektüre her unterhaltsames Ende fand. Damals konnte und wollte der Chef des Suhrkamp-Verlags mit einem seiner wichtigsten Autoren nicht mehr: „lieber herr bernhard“ , heißt es da in einem Telegramm, „fuer mich ist die schmerzensgrenze nicht nur erreicht, sie ist ueberschritten. nach all dem, was in jahrzehnten und insbesondere in den beiden letzten jahren an gemeinsamem war, desavouieren sie mich, und sie desavouieren den verlag. ich kann nicht mehr.“

Tags darauf wurde von Wien aus der letzte gallige Witz des österreichischen Großschriftstellers Thomas Bernhard an seinen ewigen verlegerischen Reibebaum gesendet, den er später nur noch einmal 1989, zwei Wochen vor seinem Tod treffen sollte: „Lieber Siegfried Unseld, wenn Sie, wie Ihr Telegramm lautet, ,nicht mehr können‘, dann streichen Sie mich aus Ihrem Verlag und aus Ihrem Gedächtnis. Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gekannt haben.“

Jahrzehnte nach dieser bis 1984 intakten, leidenschaftlichen wie hasserfüllten, um Freundschaft flehenden wie gesellschaftliche Mindestumgangsformen oft scheuenden schriftlichen Korrespondenz liegt nun, nach einer von Gert Voss und Peter Simonischek eingelesenen Kurzfassung als Hörbuch endlich auch die gesamte Korrespondenz schriftlich vor.

Ausgehend davon, dass die Attraktion des Furchtbaren zwar nur schwer erklärbar, dafür aber für den Leser umso interessanter sei, werden wir hier über knapp 900 Seiten Zeuge einer einseitigen „Freundschaft“ . Bernhard richtet, Ende 1961 mit 30 Jahren ein weitgehend erfolgloser Schriftsteller, ein Bittschreiben an den berühmten deutschen Verleger. Dieser erbarmt sich des hoffnungslosen Dichters und beginnt, damals schlecht sich verkaufende Texte des Salzburger Autors zu veröffentlichen. Kaum einer überspringt damals die Dreitausender-Auflage.

Parallel zu Bernhards Erfolg bei der Kritik und dank seiner zunehmend gut vermarktbaren Theaterstücke beginnt Thomas Bernhard vor allem ab den 1970er-Jahren, seinen Verlag und Verleger zunehmend zu triezen und zu quälen, am Schmäh zu führen und zu hintergehen. Für die damalige Zeit exorbitante Vorschüsse werden nicht zurückgezahlt. Bernhard beginnt seine mehrteiligen Kindheitserinnerungen, ausgehend von Die Ursache, im Salzburger Residenz Verlag zu veröffentlichen. Ein Affront, dessen diesbezügliche Trauerarbeit großen Raum im Briefwechsel einnimmt.

Bernhard fordert Liebe, Anteilnahme, Geld, Geld, Geld. Mit dem Ankauf von Immobilien hat er sich heillos überschuldet. Angeblich auch, um sich in schreiberischen Zugzwang zu bringen. Über die Jahre wird der Umgangston des gesundheitlich chronisch angegriffenen Autors mit Unseld zunehmend höhnischer. 1979 beantwortet er etwa Unselds Bitte um ein Treffen: „Lieber Siegfried Unseld, wenn die Natur der Sache und die Natur selbst es erlauben, sehen wir uns am übernächsten Freitag den 29. in Stuttgart. Ich bin in guter Form und für alle möglichen Lebenszeichen besteht also bis zu diesem Datum keinerlei Anlass.“

Unseld bettelt in Folge um ihm versprochene Manuskripte. Bernhard verweigert die Rückzahlung von Darlehen. Dafür schwört er seinem Stammverlag die Treue: „Ich gehe nicht mehr fremd.“ Bernhard bricht seine Versprechen.

Spätestens mit dem Erscheinen von Wittgensteins Neffe 1982 steigt Thomas Bernhard zum „Skandalautor“ und literarischen Marktwert auf. Und er lässt diesen Fakt seinen Verleger genüsslich wissen. Das ergibt in Summe in über 500 Briefen ein Vierteljahrhundert großes, parlierendes, größenwahnsinniges wie kleinkrämerisches Tennis als Beziehungsdrama. Es liest sich heute so dramatisch wie die besten Stücke Bernhards.

Siegfried Unseld ahnte dies bereits 1968: „Ich stelle mir vor, was künftige Adepten des Studiums von Literatur- und Verlagsgeschichte bei der Lektüre unseres Briefwechsels sagen werden.“ Die Adepten sagen: Große Kunst wird nicht immer von guten Menschen geschaffen.

Thomas Bernhard / Siegfried Unseld -Der Briefwechsel (869 Seiten/ € 41,-), Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2009.

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