Archive for ‘Die Soziologie’

31. Mai 2011

Philip Morris gegen Uruguay

US-Tabakkonzern klagt gegen staatliches Nichtrauchergesetz – Land erhält internationale Unterstützung

Uruguay versus Philip Morris, „David gegen Goliath“. So titelten Zeitungen in dem kleinen Land am Rio de la Plata am Mittwoch, dem ersten Prozesstag des US-Tabakgiganten gegen den uruguayischen Staat. Anlass ist das seit 2006 dort geltende Nichtrauchergesetz, das Rauchen in geschlossenen Räumen verbietet, die Steuern drastisch erhöht hat und strikte Vermarktungsregeln vorschreibt.

So ist die Aufschrift „light“ verboten, und 80 Prozent des Platzes auf der Zigarettenschachtel sind für die Warnung vor den Gefahren des Rauchens reserviert. Das verletzt nach Auffassung des Tabakkonzerns seine Markenrechte und ein Investitionsschutzabkommen mit Uruguay. Treibend für das erste Gesetz dieser Art in Lateinamerika war Tabaré Vazquez, damaliger Präsident und Krebsspezialist.

Zahl der Raucher sank um sieben Prozentpunkte

Bei der nichtöffentlichen Videokonferenz vor dem Internationalen Schiedsgericht für Investitionsfragen in Paris wurden nach Angaben der uruguayischen Regierung formale Punkte geklärt und der Weg für erste Vorladungen freigemacht.

Philip Morris lehnte eine Stellungnahme ab. Angeblich verlangt die Firma zwei Milliarden Dollar (1,4 Mrd. Euro) Schadenersatz. Der Konzern argumentiert, er habe sieben seiner zwölf Marken aufgrund des Gesetzes vom Markt nehmen müssen. Das habe nicht der Volksgesundheit gedient, sondern lediglich lokalen Konkurrenzmarken genützt.

Die uruguayische Regierung verweist auf ihre Fürsorgepflicht für die Bürger. „Wir sind der Auffassung, dass Regierungen derartige hoheitliche Entscheidungen treffen können, und dies sowohl völkerrechtlich abgedeckt ist als auch vom Investitionsschutzabkommen“, sagte Präsidialamtsleiter Diego Canepa. Nach offiziellen Angaben sank die Zahl der Raucher von 32 auf 25 Prozent, bei Jugendlichen von 32 auf 18 Prozent.

Uruguays BIP liegt bei Philip Morris‘ Halbjahresmusatz

Als eines der Länder, das am striktesten die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegen das Rauchen umsetzt, wird Urugay von dieser unterstützt. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg spendete dem Land 500.000 Dollar (352.600 Euro) für das Verfahren, das nach offiziellen Schätzungen umgerechnet bis zu 2,8 Mio. Euro kosten und mindestens zwei Jahre dauern wird.

Uruguay hofft auf Unterstützung weiterer Länder. Sein Bruttoinlandsprodukt liegt bei 31 Mrd. Dollar (21,9 Mrd. Euro) – Philip Morris macht jährlich doppelt so viel Umsatz. Eduardo Blanco, urugayischer Kardiologe, glaubt, dass der Konzern bewusst einen kleinen, finanzschwachen Gegner erwählt hat, um ein Exempel zu statuieren, wie er der BBC sagte.

Sandra Weiss

Schlagwörter: , ,
24. Mai 2011

Go the Fuck to Sleep

So wie Milliarden Eltern hatte Adam Mansbach eine harte Zeit, als seine Tochter im Alter von zweieinhalb Jahren nie einschlafen konnte. Und genauso wie die meisten anderen Eltern hegte auch er nicht nur freundliche Gedanken gegenüber seiner Tochter.

Das ist normal, wie in Elternratgebern nachzulesen ist – und als Psychohygiene wichtig, solange den Gedanken keine Worte oder Taten folgen. In Zeiten von Facebook postet der Mensch seinen Frust. Mansbach schrieb sinngemäß in sein Profil, dass er statt eines Kinderbuchs gerne das Buch „Go the Fuck to Sleep“ vorlesen würde.

Seine Freunde waren so begeistert, dass Mansbach tatsächlich dieses Kinderbuch schrieb, für den kleinen Verlag Akashic Books und selbstverständlich mit dem Hinweis, dass man das Buch besser nicht den Kleinen vorlesen sollte. Darin sind Zeilen enthalten wie:

„Ich weiß, dass Du keinen Durst hast“

„The eagles who soar through the sky are at rest / And the creatures who crawl, run and creep. / I know you’re not thirsty. That’s bullshit. Stop lying. / Lie the fuck down, my darling, and sleep“ (zitiert nach dem britischen „Guardian“). Also: Alle Tiere schlafen – und dann: „Ich weiß, dass Du keinen Durst hast. Das ist Bullshit. Hör auf zu lügen. Leg Dich verdammt noch einmal nieder und schlaf, meine Süße.“

Und: „The cubs and the lions are snoring. / Wrapped in a big snuggly heap. / How come you can do all this other great shit / But you can’t lie the fuck down and sleep?“ Also – auch die kleinen Tiere und Löwen schlafen – „Wie kommt es, dass Du jeden Scheißdreck voll beherrschst / Aber verdammt noch einmal Niederlegen und Schlafen nicht?“ Wer schon einmal kleine Kinder großgezogen hat, der kann die existenzielle Verzweiflung verstehen, die aus diesen Worten spricht.

Plötzlicher Riesenhype

Die Veröffentlichung war noch immer eher als Scherz gedacht, die Auflage entsprechend klein. Doch plötzlich war im Netz eine PDF-Version unterwegs und wurde zum viralen Phänomen. Man verlegte kurzerhand den Erscheinungstermin von Oktober auf Juni und erhöhte die Auflage. Was dann passierte, übertraf die Erwartungen aller Beteiligten: Das Buch wurde – einen Monat vor seinem Erscheinen – nur aufgrund von Vorbestellungen zum meistverkauften Literaturtitel bei Amazon – wohlgemerkt, ein 32 Seiten starkes Kinderbuch, das man keinem Kind vorlesen kann.

Mansbachs Tochter ist nun drei Jahre alt, sie schläft jetzt besser ein, das Schlimmste ist vorüber. Gegenüber dem „Guardian“ sagt der Vater, dass er und seine Frau die ersten dankbaren Leser des Buchs gewesen seien. Das Buch fange die Frustration ein, „in einem Raum mit einem Kind zu sein und das Gefühl zu haben, diesen Raum nie wieder verlassen zu können und also den Rest seines Lebens in diesem dunklen Raum verbringen werden zu müssen, wo man versucht, sein Kind zum Einschlafen zu animieren“.

„Du gehst jetzt nicht aufs Klo“

Später überzeugte das Buch auch prominente Testleser, wie auf der Website des Verlages nachzulesen ist. Der momentan groß gefeierte Autor Jonathan Lethem etwa nannte die Verse „total genial“. David Byrne (Ex-Talking-Heads-Frontman): „Ein Kinderbuch für Erwachsene – ich habe mich kaputtgelacht.“ Das Prinzip hinter dem Buch ist der Tabubruch – und wie gut der tun kann, wissen wir spätestens seit Freud und seinem Buch über die Funktionsweise der Witze.

Ein letztes Zitat sei hier noch wiedergegeben, weil man auf die deutsche Version wohl noch lange warten wird müssen, falls sie überhaupt jemals kommt: „All the kids from day cara are in dreamland. / The froggie has made his last leap. / Hell no, you can’t go to the bathroom. / You know where you can go? The fuck to sleep.“ Frösche und Kinder schlafen also – und: „Verdammt noch einmal nein, Du gehst jetzt nicht aufs Klo. / Weißt Du, was Du machen kannst? Verdammt noch einmal einschlafen.“



23. Mai 2011

Fremdschämen kann man messen

Das Beobachten peinlicher Situationen anderer aktiviert die selben Hirnareale wie beim Anblick körperlicher Schmerzen

Fremdschämen kann man im Gehirn deutlich messen. Beim Beobachten peinlicher Situationen anderer würden die gleichen Hirnareale aktiviert wie beim Anblick körperlicher Schmerzen eines Mitmenschen, erklärten Sören Krach und Frieder Paulus von der Universität Marburg. Für ihre im Wissenschaftsmagazin PloS One erschienenen Studie hatten sie Gehirnströme von 32 Menschen untersucht, die Zeichnungen von Menschen in peinlichen Situationen angeschaut hatten.

Eine Fragebogenstudie mit 600 Probanden bestätigte ein weiteres Ergebnis der Messungen: Das Phänomen stellvertretender Scham ist unabhängig davon, ob die betroffene Person selbst die Situation als peinlich wahrnimmt. So tritt das Gefühl des Fremdschämens auch auf, wenn jemand mit offener Hose durch die Fußgängerzone geht, dies selbst aber gar nicht bemerkt.

Ausdrücklich erwähnen die Forscher beim Phänomen Fremdschämen Fernsehsendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“, in denen sich Kandidaten vor Millionen Zuschauern präsentieren. Sie lieferten Fremdscham dank peinlicher Situationen frei Haus, auch ohne dass die Betroffenen davon selbst etwas mitbekämen, erklärten die Forscher.

Abstract
PloS One: Your Flaws Are My Pain: Linking Empathy To Vicarious Embarrassment

23. Mai 2011

Wie der Nachtschwärmer zum senilen Bettflüchter wird

Der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich mit dem Alter kontinuierlich nach vorne – Schweizer Forscher haben sich angesehen, woran das liegt

Der Fachausdruck für die innere Uhr lautet zirkadianer Schrittmacher, sitzt im sogenannten Nucleus suprachiasmaticus des Gehirns und befindet sich in steter Verbindung mit Taktgebern in den Körperzellen. Diesen Rhythmusgebern ist es zu verdanken, dass die meisten Menschen, je nach dem über welche genetischen Grundlagen sie verfügen, entweder als Lerche, sprich: Frühaufsteher, oder als Eule, also Morgenmuffel, durch einen Teil ihres Lebens gehen.

Ab dem 20. Lebensjahr tritt allerdings eine allmähliche Veränderung ein: der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich kontinuierlich Richtung früher, bis wir im Alter an der berühmten frühmorgendlichen senilen Bettflucht leiden. Schweizer Wissenschafter sind nun der Frage nachgegangen, welche Faktoren für den Wechsel im Ablauf der inneren Uhr verantwortlich sind. Die Antwort fanden sie im Blut.

„Sklaven-Uhren“ in den Zellen

Biologische Uhren kontrollieren eine Vielzahl tagesrhythmischer Prozesse wie Schlaf, Körpertemperatur, Blutdruck, Hormonausschüttung und Verdauung. Diese Aktivitäten werden von zirkadianen Schrittmachern gesteuert. Diese werden durch das Licht, das durch die Augen einfällt, synchronisiert und kommunizieren mit anderen Uhren, den sogenannten „Sklaven-Uhren“, die in den meisten Zellen unseres Körpers vorkommen.

Diese Zellen stellen die für die zirkadiane Rhythmik (den inneren Rhythmus, die innere Uhr) wichtigen Uhren-Gene dar. Die Uhren-Gene und die von ihnen codierten Proteine wirken in einer komplexen negativen Rückkopplungsschleife zusammen und sie generieren zelluläre molekulare Rhythmen. Ein zirkadianer Rhythmus besitzt eine Periodenlänge von rund 24 Stunden. Die Periodenlänge der inneren Uhr hängt von der genetischen Ausstattung ab. Zudem ist es möglich, Organismen zu züchten, die aufgrund unterschiedlicher Mutationen in Uhren-Genen eine interne Uhr mit längerer oder kürzerer Periodenlänge haben.

Von der Nachteule zum senilen Bettflüchter

Bei Menschen können zwei Hauptkategorien von Chronotypen unterschieden werden: Der Lerchentyp ist frühmorgens frisch und munter, der Eulentyp blüht viel später auf. Interessanterweise verändert sich mit zunehmendem Alter der Chronotypus und die Periodenlänge der inneren Uhr nimmt ab. Ungefähr ab dem 20. Lebensjahr, nachdem während der Pubertät die innere Uhr auf nachtaktiv gepolt war, erfährt sie einen Wendepunkt, indem sie sich dann nach und nach Richtung früher verschiebt bis wir – im Alter – an der berühmten senilen Bettflucht leiden.

Der Frage, warum dieses Phänomen im Alter auftritt, sind nun Wissenschafter von der Universität Basel und der Universität Zürich nachgegangen und haben in einer Studie die molekularen Mechanismen dieser altersabhängigen chronobiologischen Veränderung untersucht. Aufgrund der Tatsache, dass eine zirkadiane Uhr in den meisten unserer Zellen, also auch in peripheren Zellen existiert, wurde eine neue von Brown entwickelte Untersuchungsmethode genutzt, nämlich die Gewinnung und Kultivierung peripherer Zellen einzelner Versuchspersonen, um die molekularen genetischen Eigenschaften der individuellen Uhren bestimmen zu können.

Leuchtende Taktgeber durch Feuerfliegen-Gene

Im Rahmen der Studie wurde 18 jungen (21-30 Jahre) und 18 älteren Versuchspersonen (60-88 Jahre) eine winzige Hautbiopsie entnommen. Die gewonnenen humanen Primärkultursysteme wurden mit einem Gen der Feuerfliege so modifiziert, dass sie Licht (Biolumineszenz) emittieren können. Da die Expression des Feuerfliegengens von einem Uhren-Gen (Bmal-1) kontrolliert wird, kann somit dessen zirkadiane Aktivität visualisiert werden.

Die individuellen rhythmischen Expressionsmuster der Fibroblastenkulturen von jungen und älteren Spendern wurden über 5 Tage erfasst. Somit war es möglich, individuelle zirkadiane Perioden am Menschen ex vivo/in vitro zu analysieren. Die Forscher fanden heraus, dass im Gegensatz zu den gut dokumentierten altersabhängigen Änderungen im Schlafverhalten, die zirkadiane Periodenlänge in Fibroblasten von jungen und älteren Spendern in vitro nicht verändert war.

Faktoren im Blut

Interessanterweise änderte sich dieses Verhalten jedoch, wenn die gleichen Zellen – egal ob „jung oder „alt“ – mit humanem Serum, das von älteren Personen stammte, statt mit Standardserum (FSC) behandelt wurden. In Analogie zu den in-vivo-Daten reagierten die Zellen mit einer Verkürzung ihrer Periodenlänge. Die Verkürzung trat jedoch nicht auf, wenn Serum von jungen Kontrollpersonen verwendet wurde.

Die Studiendaten zeigten damit erstmalig, dass das Zusammenspiel der molekularen Komponenten der inneren Uhr im Alter nicht per se verändert ist. Die Studienmacher/innen vermuten, dass zirkulierende thermolabile Faktoren für die Modulation der zirkadianen Rhythmik im Alter verantwortlich sind. Diese sind hormonellen Ursprungs und könnten damit auch durch pharmakologische Interventionen behandelbar sein.

Abstract
PNAS: Serum factors in older individuals change cellular clock properties

23. Mai 2011

Schleichwerbung „flächendeckendes“ Phänomen

ZeitungenIn heimischen Tages-zeitungen wimmelt es von Schleichwerbung, konstatiert der PR-Ethik-Rat. Als Beweis für dieses offene Geheimnis präsentierte der PR-Ethik-Rat am Freitag eine Studie, in der mehrere Tages-zeitungen, Nachrichten- und Special-Interest-Magazine nach versch. Formen von Schleich-werbung durchforstet wurden.

550 Beiträge wurden gesichtet, 325 davon waren „kritisch im Sinn der Fragestellung“, so Studienautorin Ursula Seethaler bei einer Pressekonferenz. Grundsätzlich sei das Phänomen „ein flächendeckendes“, wobei Schleichwerbungen in Boulevardmedien „deutlich häufiger“ auftreten, als in anderen Zeitungen. Insgesamt konnten die Studienautorinnen acht verschiedene Typen von Schleichwerbung festmachen. Das für den Leser größte Problem ist aber die Anpassung von redaktionellen Anzeigen an das journalistische Umfeld. Das heißt, selbst wenn bezahlte Beiträge gekennzeichnet waren, was bei zwei Dritteln der Fall war, ließen sie sich aufgrund der gestalterischen Ähnlichkeit kaum von journalistischen Beiträgen unterschieden.

Irreführend seien auch falsche Kennzeichnungen. Laut Gesetz muss unter einem bezahlten Beitrag „Anzeige“, „entgeltliche Einschaltung“ oder „Werbung“ stehen. Vor allem bei Serien und Sonderbeilagen könne man allerdings stattdessen „mit freundlicher Unterstützung von“, „in Kooperation mit“ oder „eine Initiative von“ lesen. „Solche Kennzeichnungen sind überdies oft kaum sichtbar und die Kooperationspartner werden unkritisch positiv dargestellt“, hieß es.

Besonders lax ist der Umgang mit Schleichwerbung laut Studie in den Ressorts Reisen, Wellness, Essen und Gesundheit. Entsprechende Artikel mit nicht korrekt deklarierten redaktionellen Inseraten seien demnach vor allem in der „Kronen Zeitung“, in „Heute“, „Österreich“, dem „Format“ und den „Vorarlberger Nachrichten“ gefunden worden. Kritisch wurden auch Sonderwerbeformen wie Sonderbeilagen oder Themenstrecken beleuchtet, die vor allem dazu dienten inseratenfreundliche Umgebungen zu speziellen Themen zu schaffen. Hier monieren die Studienautoren, dass oft völlig unklar ist, „ob redaktionelle Artikel eingebaut oder die Seiten vollständig aus bezahlten Beiträgen bestehen“.

Angesichts der weiten Verbreitung von Schleichwerbung fordert der PR-Ethik-Rat und allen voran sein Vorsitzender Wolfgang Langenbucher, eine „Anpassung der gesetzlichen Regelungen für die Kennzeichnung entgeltlicher Einschaltungen“. Die Kennzeichnung müsse „gut sichtbar“ sein, außerdem müsse es im Mediengesetz eine eigene Regelung für Medienkooperationen sowie einen erhöhten Strafrahmen für nicht deklarierte Werbung geben, so Langenbucher.

Im Rahmen der vom Ethik-Rat in Auftrag gegebene empirische Studie wurden im Oktober 2010 folgende Zeitungen untersucht: „Kronen Zeitung“, „Heute“, „Österreich“, „Kleine Zeitung“, „Der Standard“, „Die Presse“, „Oberösterreichische Nachrichten“, „Tiroler Tageszeitung“, „Vorarlberger Nachrichten“, „Niederösterreichische Nachrichten“, „profil“, „Format“ und „Woman“.

23. Mai 2011

Mateschitz bringt Sohn als Nachfolger ins Spiel

(c) sueddeutsche

Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, 67, hat einen „Nachfolger im Sinn“, schreibt das US-Wirtschaftsmagazin „Bloomberg Businessweek“ in seiner aktuellen Ausgabe. Im Gespräch mit der „Businessweek“ bringt der Red-Bull-Chef seinen Sohn Mark ins Spiel: „Mein 19-jähriger Sohn wird nach Beendigung seiner Ausbildung in das Unternehmen einsteigen, wenn er will und wenn die Zeit reif ist.“

Anfang April hatte das Wirtschaftsmagazin „trend“ berichtet, dass der Sohn des Red-Bull-Gründers eine erste Funktion im Firmengeflecht des Vaters übernommen hat. „Seit Jänner ist er Co-Geschäftsführer und Co-Gesellschafter der Dietrich Mateschitz Verwaltungs OG, die einen Mini-Anteil an der 2005 erworbenen Gesellschaft Braun & Co. hält“, schreibt das Magazin. Ansonsten sind in der Gesellschaft aber keine anderen Firmenanteile von Mateschitz geparkt.

Der Anteil sei ein „aus vertraglichen Gründen zustande gekommener symbolischer Anteil“ und sei „ausschließlich privater Natur“ und „hat nichts mit Red Bull zu tun“, erklärte damals die Red-Bull-Pressestelle gegenüber dem „trend“.

Im Jahr 2004 hatte sich Mateschitz in einem seiner selten Interviews gegenüber dem Schweizer Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ zur Frage seiner Nachfolge wie folgt geäußert: „Red Bull ist eine GmbH, in der ich Gesellschafter bin. So wird es bleiben, bis ich beurteilen kann, ob mein Sohn die Nachfolge antreten möchte und kann.“

Als Erfinder der Red-Bull-Rezeptur hält die thailändische Unternehmerfamilie Yoovidhya 51 Prozent am Unternehmen. Dietrich Mateschitz besitzt 49 Prozent an der Red Bull GmbH.

Der Energydrink-Konzern hat im Geschäftsjahr 2010 das bestes Ergebnis seiner Geschichte erzielt: Der Unternehmensumsatz legte im Vergleich zu 2009 um 15,8 Prozent auf 3,79 Mrd. Euro zu. Der Absatz stieg um 7,6 Prozent auf 4,2 Milliarden Dosen. Die Expansion geht aber noch weiter: Für das zweite bis dritte Quartal 2011 ist der Markteintritt in China geplant. Derzeit wartet man bei Red Bull noch auf die behördliche Zulassung.

16. November 2010

Einer, der sich nicht zähmen ließ

Der in Paris lebende Schweizer Schriftsteller Paul Nizon wird am Montag mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet

Zürich 1974: Es war ein warmer, fast vorsommerlicher Apriltag, als Federico Fellinis Film Amarcord über (s)eine Jugend im faschistischen Rimini in den Schweizer Kinos anlief und Paul Nizon, den der italienische Regisseur lange schon „wie ein Stern“ begleitet hatte, im Zürcher Tagesanzeiger schrieb: „Fellini erfindet keine Filme. Er zeigt , das Leben‘, er zeigt es in seiner anarchischen Wildheit und blendet es an in seiner Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, (…). Es ist das gewöhnliche Leben von jedermann, aber in seinen Filmen wird es zur atemberaubenden Saga. Er (Fellini) ist der Clown, der ihnen für Momente und Stunden die Augen öffnet, bevor er sie wieder entlässt. Er hat sie zum Lachen und Weinen gebracht, er hat sie gerührt, durcheinandergebracht und erschüttert. Er hat sie in den Reigen gespannt. Sie werden sich noch eine Weile ,erinnern‘ an ,das Leben‘.“

Vieles, was Nizon über Fellinis Film schreibt, nahm und nimmt er auch für seine eigene Arbeit als Schriftsteller in Anspruch: die Feier der Liebe und des Augenblicks, die Glückssuche, das Jagen nach dem „richtigen“ Leben, dem einen, das nottut, die Amalgamierung von Erinnerung und Gegenwart, das Beharren auf Glanz und einer poetischen Weltsicht, auch wenn die Zeichen anders stehen.

Ein Jahr zuvor, Ostersamstag 1973, hatte Nizon in seinem Journal notiert: „Ungeheure Tiefs mit finsterster Bedrückung, geballte Aggression und viel Lethargie, die ganzen Tage durch.“ Und in der Tat waren die letzten Jahre, das letzte Jahrzehnt eigentlich, schwierig gewesen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und den Job als leitender Kunstkritiker der NZZ, Familie und Sicherheit in die Waagschale geworfen, um Schriftsteller zu werden. Der Erfolg stellte sich zögerlich ein – und Nizon tat das, was er in solchen Situationen immer tut: „Durchhalten. Weitergehen.“

Wiederum 36 Jahre später, 2009, Nizon lebte mittlerweile schon mehr als drei Jahrzehnte in Paris, sollte es dann dieser 1929 in Bern als Sohn eines russischen Emigranten und einer Schweizerin geborene Autor sein, dem als erstem noch lebenden Schriftsteller (später folgten ihm Hans Magnus Enzensberger und Amos Oz) die Ehre zuteilwurde, mit einem 1500 Seiten umfassenden Band mit allen bisher geschriebenen Erzählungen, Romanen und Journalen in der renommierten Quarto-Reihe des Suhrkamp Verlags zu erscheinen – und in dieser Bibliothek der „Weltliteratur und des Wissens“ in einer Reihe mit Autoren wie Foucault, Brecht, Joyce, Bernhard, Marguerite Duras, Cioran, Frisch und Kafka zu stehen.

Undressierbar

Zu Recht, wie viele meinten – auch als Nizon mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet wurde, der ihm am Montag von Bundesministerin Schmied übergeben wird. Nizon ist hier kein Unbekannter: Elias Canetti war sein Trauzeuge, mit Max Frisch und Ingeborg Bachmann war er befreundet, wenn er in Österreich las, reiste Thomas Bernhard an, H. C. Artmann besuchte ihn in Paris, und Handke sieht Nizon als einen „der am wenigsten dressierten Schriftsteller, inmitten der zunehmenden Dressiertheit, Fremdgelenktheit der anderen; undressierbar“.

Undressierbar: Nizon trug in den 1960er-Jahren, als man deswegen bei Linken und Progressiven definitiv noch auf die Reaktionärs-Liste kam, Anzug und Krawatte, posierte mit Zigarette im Mundwinkel in Filmstarmanier auf einer Seine-Brücke für Fotografen – natürlich im Trenchcoat samt Sonnenbrille -, schrieb zu einer Zeit, als von Schriftstellern politische Statements und Themen erwartet wurden, über Persönliches und Erotik (was er immer noch tut) – und tönte dabei großartig, sein Platz unter der Sonne sei im Nachtlokal. Er legte sich mit Kritikern an und verhielt sich insgesamt wie ein Boxer, der in der neunten Runde merkt, dass er nur verlieren kann. Es sei denn, er landet einen Lucky Punch.

Nicht wenige Schweizer Schriftsteller der mittleren Generation, etwa Hansjörg Schertenleib oder Silvio Blatter, sagen, Nizon habe sie zu Lesern gemacht – zu Schriftstellern sowieso. Und der NZZ-Kritiker Samuel Moser schreibt, Nizon sei einer, der sich nicht einfangen lasse: „Früher nicht, jetzt nicht, nie.“ Was stimmt, allerdings hat die Schriftsteller-Inszenierung Nizons Werk mehr geschadet, als sie ihm nützte, und wenn man sich an den Lou- Reed-Sager hält, dass es besser sei, nichts von dem, was man hört, und die Hälfte dessen, was man sieht, zu glauben, und das Äußere der schillernden Autorenfigur ausblendet, ergibt sich bei der Lektüre der Werke Nizons ein anderes, differenzierteres Bild.

Nämlich das einer Schriftstellerpersönlichkeit, die sich als „Autobiografiefiktionär“ im wahrsten Sinn das Leben erschreibt und schreibend sich selbst, nein, dem Leben auf der Spur ist. Es werden bei der Lektüre die Konturen eines Ich sichtbar, das um eine poetische Weltsicht kämpft, um ein Schreibleben, um jedes Buch, um jeden Satz, „der sozusagen ein Heimkehrer aus dem Krieg sein muss, der überleben konnte“.

Das Unterwegssein und Nichtankommenkönnen sind Grundmotive in Nizons Werk, dem auch das Ringen um Schönheit, Form und der Kampf gegen die Auflösung, das drohende Nichts eingeschrieben sind. In kreisenden Suchbewegungen skizziert dieser Autor, der sich in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Am Schreiben gehen (1985) als „Lebenssucher“ bezeichnet, mit existenzieller Wucht und federleichtem Stil Ausgänge aus einer vom Ich als beengend und lebenstötend empfundenen Welt. In exemplarischer Weise schreibt Nizon, oft anhand des eigenen Lebens, über das Ringen um Helligkeit und Schönheit, die für ihn im schöpferischen Akt der Sprache, im Alltag und in der Liebe gefunden werden können.

Das hat in seiner existenziellen, radikalen Ausrichtung in der heutigen Zeit fast schon etwas Romantisches, etwas Tröstliches auch.

Berühmt, nicht erfolgreich

Obwohl er sich in Frankreich – vor allem mit den großen Parisromanen Jahr der Liebe (1981, ein Mann, der neu in der Stadt ist, beginnt, ausgehend von einem Pariser Hinterzimmer, sein Leben neu), Im Bauch des Wals (1989, in dem sich die Leitmotive der Suche nach dem Leben, der Gegenwart der Stadt und der Frauen wiederfinden), Hund Beichte am Mittag (1998, ein Streuner, der alles hinter sich ließ, wendet sich der Vergangenheit zu) und Das Fell der Forelle (2005, über einen Liebesversehrten, der aus Welt und Zeit fällt) – Kultstatus erschrieb, halten sich die Auflagen seiner Bücher in engen Grenzen (Wal 10.000, Jahr der Liebe 20.000, Hund 13.000).

Im deutschen Sprachraum sieht es ähnlich, eher schlechter aus. Hier ist er, obwohl seine Bücher etwa in Hamburg zur Schullektüre zählen und es in jeder Runde, in der über Literatur geredet wird, einen (seltener eine) gibt, der oder die alles von diesem Autor gelesen hat, unterschätzt geblieben.

Er sei ein „berühmter, erfolgloser Schriftsteller“, sagte Nizon vergangenes Jahr. Warum? Im Interview mit dem Standard meint er dazu: „Mein Schreiben ist eine auf Selbstfindung, Positionierung und Haltsuche angelegte individualistische Arbeit. Eine Jagd auf mich selbst. Vielleicht hat die Verhinderung, mit dem großen Publikum Kontakt aufzunehmen, mit diesem selbstausgräberischen Element zu tun, das nicht jedermanns Sache ist. Im Grunde genommen verfertige ich, wenn ich schreibe, ein Einzelstück. Ich wende mich an ein Leser-Du – und nicht an einen großen Markt.“

Und Houellebecq, der mit seinem neuen, soeben mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman La carte et le territoire in Frankreich gerade wieder für Furore sorgt? Nizon: „Ich habe den Roman gelesen, und er hat mich gefangen genommen. Michel Houellebecq hat allerdings eine vollkommen andere Weltsicht, die mit Poesie nicht unbedingt viel zu tun hat. Seine Bücher laufen sehr gut, sie sind von ihrer epischen Struktur her für ein großes Publikum geschrieben, sie richten sich nicht an den eigenen inneren Menschen oder einen Partner. Sie sind marktgängig, aber von einem sehr respektablen Niveau.“

Zu tun hat die für die Qualität dieser Literatur erstaunlich geringe Verbreitung der Werke Nizons vielleicht auch mit dem Etikett „Männerliteratur“, das relativ schnell auf Nizons Bücher, in denen öfter „maisons de rendez-vous“ besucht werden, gestempelt wurde. Zudem lehnt es dieser Autor ab, lineare Geschichten, zu schreiben: Vielmehr sind seine Bücher nach musikalischen Prinzipien konzipiert und komponiert, mit verschiedenen Tempi, Auftakten und wiederkehrenden Motiven. Und nachdem er es sich mit den deutschen Kritikern verdorben hatte, machte er sich in der Schweiz mit seinem Langessay Diskurs in der Enge (1970) schließlich auch keine Freunde. Während Walter Benjamin – mit Blick auf Robert Walser – einmal vermutet hatte, helvetische Literaturarbeit sei das Ergebnis „keuschen, kunstvollen Ungeschicks in allen Dingen der Sprache“, weitete Nizon in Diskurs in der Enge diese These aus. Die schweizerische Kunst sei provinziell, es fehle ihr an Welthaltigkeit und Urbanität. Die Schweiz lehne jede Partizipation mit der übrigen Welt ab, mit Ausnahme jener durch unsichtbare Finanzverflechtungen. Der Oberteufel heiße Utopie, Stoffe gebe es nur für den Psychiater, und das Land sei insgesamt ein „Avantgardist des Todes“.

Nicht nur in Nizons Büchern, deren Schauplätze Bern, Rom, der Spessart, Barcelona und Paris, immer wieder Paris sind, ist das Grenzüberschreitende wichtig, es ist dem Autor in die Familiengeschichte geschrieben. Deshalb hält er auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur nicht nur finanziell (25.000 Euro) für den bedeutendsten Preis, mit dem er ausgezeichnet wurde. Nizon: „Dass es eine europäische Auszeichnung ist, freut mich ungeheuer. Mein Vater war Russe, ich wuchs mit italienischen und spanischen Emigrantenkindern auf, die Eltern meines Vaters sind in London begraben, wo ich zwei Jahre lebte und meine Tochter, die in erster Ehe mit einem Engländer verheiratet war, studierte. Meine Schwester wurde durch Heirat Italienerin, ein Sohn lebt in den USA.“

Das hat Nizons Blick auf Gesellschaftliches geschärft. Zwar gilt der passionierte Zeitungsleser als unpolitisch, in seinem subversiven Beharren auf Subjektivität und Individualität ist er aber politischer als manch „Engagierter“. Vor allem der Regierungschef seiner Wahlheimat, Nicolas Sarkozy, ist ihm ein Dorn im Auge.

So gab er einer Schweizer Zeitung zu Protokoll: „Eine geistlose Managerregierung. Ein Präsident wie der Schneider im Himmel, (….) ein Hampelmann an der Spitze, unbefleckt von Kultur, von Format. Was doch immerhin noch eine Rolle spielte bei einem Landesvater wie Chirac, der zwar als politischer Serienkiller verschrien war; aber er war kein Parvenu, er hatte doch so etwas wie Postur, Humanität, und er war letztlich eine vertrauenswürdige bürgerliche Figur, auch wenn er hie und da in die Staatskasse griff. Während der jetzige eine französische Karikatur von Berlusconi ist, wenn man das so sagen kann.

Wenn die reale Macht auch woanders liegen mag als bei den Regierungen, so färbt die Mentalität der Regierenden doch sehr auf die allgemeine Lebenslage ab. Unter Mitterand, der eine Sphinx war, ein Künstler der Macht, aber eine wirklich große kulturelle Persönlichkeit, war man anders beschirmt als bei diesem kleinformatigen Ubu.“

Bilder

„Ich kann es nicht sagen, mein Vater, vielleicht kann ich’s reisen“, heißt es in Nizons ungestümem Erstlingsroman Canto (1963), einem Vater- und Rombuch, das in seiner offenen Form mit nichts damals im deutschen Sprachraum Bekanntem vergleichbar ist, und Protokoll einer Reise lautet der Untertitel der Erzählung Untertauchen, die von einem Mann handelt, der im Auftrag seiner Zeitung nach Barcelona fährt und dort seiner bürgerlichen Existenz verlustig geht, indem er sich der Liebe hingibt, fraglos, selbst- und pflichtvergessen, ohne Reserve, bedingungslos, bis zur Erschöpfung. Dafür muss man bezahlen in unserer Welt.

Vielleicht hat aber bei Nizon, der einmal sagte, er hoffe, seine Bücher würden im Leser aufgehen, „wie sich japanische Papierblumen im Wasser öffnen“, alles nicht mit den Worten, die für ihn die Welt bedeuten, sondern mit Bildern, der Sprachlosigkeit, begonnen: mit dem Bild des Vaters, eines Chemikers und erfolgreichen Erfinders, der in der riesigen Berner Wohnung verdämmert und früh an multipler Sklerose stirbt – ein Schock für den 13-jährigen Nizon, der ein Jahr lang in der Schule überhaupt nicht mehr „funktioniert“. Mit dem Bild von arbeitenden Frauen, Mutter und Tante, welche die zwanzig Zimmer der Wohnung zur Pension umfunktionieren mussten. Mit dem Bild des gartenreichen Länggassquartiers, Nizon wird es einmal das „Revier des Falken“ nennen, durch das in sanften Schwaden Schokoladegeruch der nahegelegenen Toblerfabrik zog. Mit dem Bild des jungen Mädchens schließlich, in das sich der 12-jährige Gymnasiast verliebt und das ihm auf die Frage, ob es mit ihm gehen möchte, antwortete: „Ich muss es mir überlegen.“

Es sind diese Bilder, die sich durch Nizons erste Bücher Canto, Im Hause enden die Geschichten (1971), Untertauchen (1972) und auch Stolz (1975), einen Roman über die Ich-Gefangenschaft des titelgebenden Helden, der nicht zufällig an Büchners Lenz erinnert, ziehen. Später kamen andere Bilder hinzu, bewegte von Cassavetes und Fellini (ein großer Kinogänger ist Nizon noch jetzt) und statische von Chaim Soutine, Giacometti und Van Gogh, über den Nizon nach seinem Kunstgeschichtestudium promovierte.

Nimmt man nun den Quarto-Band, einen dicken Ziegel, zur Hand, der fast das gesamte Werk dieses singulären Schriftstellers umfasst, wird klar, dass zwischen Nizons Erstling, dem Erzählband Die gleitenden Plätze (1959), und seinem bislang letzten Roman Das Fell der Forelle Meilen liegen – und ein ganzes Leben. Das Leben eines Menschen, der nie eingestiegen und doch immer wieder ausgebrochen ist, der daran glaubt, dass man nur aus einer starken Emotionalität, aus einer großen Teilnahme – „das heißt entweder aus Liebe oder Hass“ – schreiben kann, und der sich lange mit dem Weggehen, Grenzüberschreiten, Verlassen aufhielt.

Dichtung

Dürrenmatt schrieb in einem Brief: „Ich denke oft an dich. Ich sehe dich finster und verschlossen in Paris herumlaufen. (…) Indem ich in deinem Untertauchen lese, wird mir deutlich, was bleibt, was Bild geworden ist, was, damit es Bild geworden ist, wieder zum Wort werden kann, ist Erinnerung, und ich meine damit das Gegenteil von Erdichtung: sind doch gerade die meisten Erinnerungen Erdichtungen, oft großartige: Proust. Reine Erinnerungen aber sind Dichtungen, das heißt nicht Sprachlust, Beschwörung, Wortmagie, sondern das Fallenlassen der Gründe, die ja in der Erinnerung gleichgültig werden, so gleichgültig wie die Zwecke. Doch für die Erinnerung zahlen wir mit Leben, und um zu leben, verbrauchen wir uns, unsere Zeit. Der Tribut, den du entrichten musst, ist verdammt teuer, mag das Resultat noch so kostbar sein.“

Paul Nizon, für den Schreiben etwas Körperliches ist, ging weite Wege, ausgesetzt dem Sirren der Stadt, der Verzweiflung, dem Glück, der Liebe und der lautlosen Explosion der Knospen im Frühling. „Ich bin nicht hier und dort und anderswo. Ich bin nur hier“, heißt es im Bauch des Wals. Daher ist für Nizon immer das jeweils nächste Buch, Der Nagel im Kopf lautet sein Arbeitstitel, das wichtigste. Nizon wird seiner Maxime, die er früh schon in einem Essay formulierte, auch in diesem Werk treu bleiben: „Meine heutige Vorstellung von einem Buch ist diese: Dinge des Lebens ohne Gerüst als eine Art Alltag in die Seiten einschwärmen lassen. Das Ganze filtern und zur Partitur verwandeln, bis es zur Stimme erstarkt und den Ton der unerhörten Kunde gewinnt, den Einmaligkeits- und Allgemeinwert mit drängenden Untertönen des Erinnerns. Es wäre bezeugt von einem authentischen Menschen, dem sich die Zunge löst. Ich schreibe in allen meinen Büchern am selben Buch. Es ist das Buch des Lebens. Viele vor mir haben damit begonnen, ich mache weiter, andere werden es fortführen.“

16. November 2010

Wo die wilden Wandas wohnen

Gut schauma aus: Satiriker Dirk Stermann über ein seltsames Land namens Österreich und das, was Deutschen dort widerfahren kann

Das Auge, sagt Goethe, sieht sich selbst nicht, aber das gilt natürlich nicht nur für das Auge, das gilt auch für den Österreicher. Auch der Österreicher sieht sich selbst nicht. Und weil es uns Österreichern so häufig an einer adäquaten Selbstwahrnehmung mangelt, brauchen wir dringend Feedback von außen, wie zum Beispiel vom türkischen Botschafter oder von Dirk Stermann, der einen kongenialen Hälfte des hoch- und tiefkomischen Satirikerduos Stermann-Grissemann. Die sagen uns dann, wie wir wirklich sind.

Anders als die Schlagzeilen dieser Tage vermuten lassen, sind ja auch nicht die Türken die wahre Problem-Minorität in Österreich, sondern Deutsche wie Stermann. Die Deutschen nehmen uns die Studienplätze weg. Sie erinnern uns konstant dran, dass man die Entnazifizierung auch besser hätte machen können. Und sie stoßen uns ständig mit der Nase darauf, wie schlecht wir Österreicher eigentlich Deutsch sprechen. Kein Wunder also, dass die rachsüchtige Geißelung der Verwendung von Germanismen („dufte“, „gerade mal“) zu den österreichischen Nationalpassionen gehört. Um uns nur ja von Deutschland abzugrenzen, behauptet Stermann, sprechen wir sogar Deutschlandsberg als Deutschlands berg aus.

Wie nehmen die Deutschen Österreich wahr? Dazu hat der Rheinländer Stermann, der 1987 als „naiver Internationalist“ nach Wien gekommen und hier hängengeblieben ist, ein ebenso interessantes wie witziges Buch geschrieben. Stermann schöpft tief aus Austro-Stereotypen und -Klischees, gleichzeitig versteht er es aber, seinen persönlichen Beobachtungen einen anarchischen Spin zu geben, der das Klischeehafte gleich wieder um Häuser transzendiert. Gleich auf den ersten Seiten ein Beispiel hierfür: Da trägt ein Austro-Bsuff lautstark öffentlich „Es wird ein Wein sein, und wir wern nimma sein“ vor. Anders aber, als man es annehmen würde, ist es nicht ein beleibter alternder Heurigenbesucher, der diesen wienerischen Sentimentalitätsklassiker röhrt, sondern ein Zwölfjähriger in einer Straßenbahn am Floridsdorfer Spitz. „Wahrscheinlich ein Tscheche oder ein Slowake“, wie Stermann maliziös hinzufügt.

Stermann stellt sich dem seltsamen Austro-Personal mit offenen Sinnen und unverhohlener Sympathie. Im Krankenhaus schließt er Freundschaft mit der Zuhälterin Wanda Kuchwalek alias der „Wilden Wanda“ („Der Deitsche und i san Freind. Ned woar, Deitscha? Wir Hinnigen miassn zsammhalten.“), er trift auf furzende Taxifahrer („a klassischer Eierschaaß“), resolut depressive Würstelfrauen („Mir geht’s gschissn“) und ORF-Abteilungsleiter, trinkt Ribiselwein in Kritzendorf („Kritz-les-Bains“), ja sogar eine Vorarlbergerin kreuzt seinen Weg. So geschult gelingt es Stermann, sich ganz im Sinn des traditionellen Entwicklungsromans nach und nach zu austrifizieren bzw. zu „entpiefkeniesieren“, wie es im Romanuntertitel heißt. Aller satirischen Heiterkeit zum Trotz ist Sechs Österreicher unter den ersten Fünf aber auch eine durchaus ernsthafte Reflexion über das So-Sein und das Anders-Sein; über nationale Identitäten und über eine gelungene Selbstpreisgabe ans Fremde, wobei das Fremde in diesem Fall einmal nicht „die Ausländer“, sondern wir Österreicher selbst sind. Ein nicht nur duftes, sondern geradezu leiwandes Buch, mit manch einer beherzigenswerten Einsicht: „In Österreich sollte man am besten nur kurze Sätze schreiben (…). Sätze, wie Marlene Streeruwitz sie formuliert: ,Ich. Gehe. Jetzt.‘ Solche Sätze kommen aus kleinen Ländern. In Flächenstaaten wie Kanada oder Australien kann man Schachtelsätze bilden, aber in Österreich nicht.“

Dirk Stermann

Dirk Stermann, „Sechs Österreicher unter den ersten Fünf. Roman einer Entpiefkenisierung“.

€ 16,95 / 265 Seiten. Ullstein Verlag, Berlin 2010

13. Februar 2010

„Also, wenn ich ehrlich bin…“

Mit gerade einmal 28 Jahren ist er Chef eines Traderteams und macht, was er am besten kann: sehr schnell entscheiden und Geld verdienen. Über das Innenleben eines Bankers

Mit gerade einmal 28 Jahren ist er Chef eines Traderteams und macht, was er am besten kann: sehr schnell entscheiden und Geld verdienen. Über das Innenleben eines Bankers.

Im 23. Stockwerk eines gläsernen Büroturms befindet sich die Handelsabteilung der österreichischen Großbank, bei der Robert Sailer im Investmentgeschäft tätig ist. Nach der Matura absolvierte Sailer, Jahrgang 1981, eine interne Ausbildung bei der österreichischen Bank, bei der er noch heute beschäftigt ist, zunächst im Back Office, dann im Handel, später Börsenhändlerprüfungen in London, Zürich und Wien sowie diverse Ausbildungsseminare im Investmentbereich. Seit 2007 ist er Chef einer Gruppe im Anlagenhandel.

Von breiten Fensterfronten umgeben, eröffnet das Großraumbüro den Blick hinunter auf die Stadt, die von hier oben ungewöhnlich fern und klein erscheint. Es herrscht reger Betrieb. Dutzende von Menschen telefonieren, hämmern auf Tastaturen ein oder starren gebannt auf Monitore, auf denen Zahlen und Kurven in scheinbar endlosem Durcheinander flimmern. Nicht jeder würde sich an einem solch hektischen Arbeitsplatz wohl fühlen. Diejenigen, die es tun, haben etwas ganz Bestimmtes vor. Sie wollen Geld und Ruhm ernten. Die Handelsabteilung der Bank ist eine Kaderschmiede für junge Aufsteiger.

„Fünf bis sechs Millionen im Jahr“

Robert Sailer ist einer von ihnen. Mit gerade einmal 28 Jahren bereits das zehnte Jahr bei der Bank beschäftigt, kann er sich mittlerweile Chef eines fünfköpfigen Trader-Teams nennen. Der Bondhandel, für den er verantwortlich ist, ist primär ein Eigenhandel der Bank, bei dem es darum geht, Investments möglichst gewinnträchtig am Markt einzusetzen. In dieser Funktion hat er es nicht mit Privatkunden, sondern mit institutionellen Anlegern zu tun, vor allem jedoch mit den Sales Units im eigenen Haus, denen er als Price Provider Auskünfte über die Preise gibt, zu denen bestimmte Anlagenarten profitabel gehandelt werden. Die Aufgabe seiner Gruppe ist klar definiert: „Wir sind angehalten, Geld zu verdienen für die Bank, und das nicht wenig.“ Das Budget, das die Gruppe erreichen muss, wird durch jährliche Benchmarks vorgegeben, die zum 1. Januar eines Jahres abgerechnet werden. „Ich muss fünf bis sechs Millionen Euro im Jahr bringen, alleine, und meine Händler jeder so um die eineinhalb Millionen Euro. So, und ich hab jetzt einmal gute fünf Millionen aufgedrückt bekommen, mit denen muss man erst einmal klarkommen. Also, so einfach ist das nicht, vor allem wenn jedes Jahr am 1.1. die Uhr wieder auf Null geht. Es wird wieder alles zurückgedreht, und das Ergebnis, das man im Vorjahr gehabt hat, ist weg. Und man beginnt wieder von neuem und macht sich Gedanken darüber: Wie werd ich das überhaupt schaffen können?“

Die Sorge, die sich in solchen Fragen andeutet, gleicht Robert Sailer durch eine Art Selbstbewusstsein aus, das nach außen keinen Zweifel an seinen erstklassigen Kompetenzen aufkommen lässt. Gern teilt er mit, wie viel Schwierigkeiten er damit hat, Aufgaben auf andere Leute zu übertragen, „weil ich natürlich immer davon überzeugt bin, dass ich es am besten mache und am meisten Geld verdiene“ . Den Grund seines Erfolges sieht Sailer in einer außergewöhnlichen Begabung, die ihm eigen sei. „Also, was mir schon sehr viele Leute gesagt haben, beziehungsweise wovon ich auch selber überzeugt bin: Ich hab typische Händlereigenschaften. Das heißt, ich bin sehr, sehr entschlussfreudig und sehr, sehr schnell. Das heißt, ich muss binnen zweier Sekunden entscheiden: Geh ich das Risiko ein? Kauf ich das? Verkauf ich das oder nicht? Sofort!“

Den Instinkt schulen

Der Nachdruck, mit dem Sailer auf seine persönlichen Fähigkeiten abstellt, erklärt sich vielleicht dadurch, dass er in seinem bisherigen Werdegang auf kein Studium zurückblicken kann, was ihm mit Blick auf höhere berufliche Ziele als Nachteil erscheint. „Volkswirtschaftlich hab ich einfach einen Aufholbedarf.“ Bevor Sailers Karriere als Investmentbanker begann, probierte er es mit einem Studium für das Lehramt Geschichte. Auch eine Bewerbung für die Polizei war bereits auf dem Weg, als sich bei einer österreichischen Bank eine Chance bot, die er ergriffen hat. „Sobald ich in das Bankwesen eingetreten bin, hab ich gewusst: Händler ist der Job, den ich machen möchte.“ Angeleitet wurde er im Zuge eines internen Ausbildungsgangs von seinem damaligen Chef, der ihm nicht nur das notwendige Produktwissen beibrachte, sondern auch seinen Instinkt schulte, auf den Sailer seither nicht wenig stolz ist. „Mein Mentor, der mich eingeschult hat, hat gesagt: ,Ich muss dich um halb drei in der Früh aufwecken können und fragen, und du sagst mir ungefähr einen Preis. Ungefähr, du musst es mir nicht ganz genau sagen, aber ich möchte sofort einen Preis haben. Und du musst ungefähr wissen, wo der Markt steht, um eine schnelle Indikation zu geben, dann bist du sicher.‘“

Mittlerweile gehört es für ihn zum Tagesgeschäft, binnen Sekundenfrist Millionen von Euro zu transferieren. Für den Umstand, dass er es hierbei bereits weit gebracht hat, besitzt Sailer, der seine langen Haare zu einem Zopf gebunden trägt, eine Erklärung, mit der er aus Unterschieden im beruflichen Werdegang einen Vorteil macht, was die eigene Befähigung angeht. „Also, rein optisch pass ich nicht in die Vorstellung eines klassischen Investmentbankers. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich so erfolgreich und so weit gekommen bin. Weil ich doch ein bisschen anders bin als die anderen. Ich hab auch nicht unbedingt die klassischen Statussymbole, die ein Banker braucht – abgesehen jetzt einmal von meiner Uhr.“

Schadensbegrenzung

Die habituelle Eignung für den Wertpapierhandel, die er sich selber zuschreibt, schien ihn vergleichsweise lange zu tragen. „Vor Lehman“, wie bei Sailer die Zeitenwende der Bankenkrise heißt, habe es keine Probleme gegeben. Er glaubte, den Markt wie seine Westentasche zu kennen. Als sich vor zwei Jahren bereits die ersten Engpässe auf den Finanzmärkten zeigten, hat er seine Portfolios soweit im Wert reduziert, dass er Verluste um ein Vielfaches geringer halten konnte, als wenn er die vormalige Anlagengröße beibehalten hätte. Sich selbst rechnet Sailer diese Art Schadensbegrenzung als professionellen Umgang mit den Wechselfällen des Finanzhandels an. Die Bank allerdings erwartet Rendite, weshalb es seither keine Bonuszahlungen mehr für ihn gab. Sailer versucht, darauf mit einem gewissen Gleichmut zu reagieren: „Bonus ist schön und gut, meine Rechnungen zahl ich mit dem Fixgehalt.“ Nach Lehman jedoch stellt sich eine tiefe Verunsicherung bei ihm ein. Niemand habe damit gerechnet, dass es zu solch einem dramatischen Einbruch kommen würde, der in Robert Sailers Sicht selbst September Eleven weit in den Schatten stellt. „Die Zeiten haben sich geändert. Ich kann jetzt mit einem Ticket, mit dem ich früher hundertfünfzig Millionen gemacht habe, vielleicht dreißig Millionen machen, und das ist schon viel. Es geht nicht mehr, weil auch die Liquidität fehlt. Früher hab ich zweihundert, dreihundert, vierhundert Millionen Euro am Stück handeln können. Da hab ich einen Händler angerufen und gesagt: Ich brauch ein Offer für dreihundert Millionen, und hab’s (er schnipst mit den Fingern) so einfach bekommen. Jetzt müssen wir über fünf, sechs Ecken gehen, um den Markt nicht komplett aufzuscheuchen.“

Für die Turbulenzen, die er seither durchzustehen hat, sieht Sailer zwei verantwortliche Akteure am Werk. Zum einen die Amerikaner. Hinter dem Entschluss der US-Notenbank, anstelle von Lehman Brothers Merrill Lynch zu stützen, vermutet er ein Komplott gegen Europa. „Ich glaube, dass Lehman viel stärker in Europa exponiert war, darum hat man gesagt: ,Okay, wir können Lehman fallen lassen.‘ Ich glaub, dass das bewusst gesteuert worden ist. Weil die CDO-Transaktionen und die ABS-Transaktionen – das waren ja Europäer, die das gekauft haben. Im Grunde genommen haben die Amerikaner ihre schlechten Assets gut verpackt und haben’s den Europäern angedreht, und die Europäer haben’s gekauft. Natürlich war da auch immens viel Liquidität vorhanden, und die Leute haben sich drauf gestürzt, ohne wirklich bis ins Detail zu wissen, was sie eigentlich gekauft haben. Und das ist uns, und vor allem den Deutschen, massiv auf den Kopf gefallen.“

Zum anderen seien die institutionellen Anleger schuld an dem ganzen Debakel. Sie hätten wissen müssen, worauf sie sich eingelassen haben. „Wenn ich heute etwas kaufe, und vorgestern war in der Zeitung, dass es eine schlechte Bilanz bringen wird und sonst auch Probleme hat, und ich kaufe das trotzdem, und einen Tag später habe ich einen Default, dann kann ich dem Verkäufer, von dem ich es habe, nicht sagen: ,Hallo, du hättest mich informieren müssen.‘“

„Das hat sich keiner vorstellen können“

Den Banken selbst hält er zugute, dass vor der Finanzkrise kaum jemand die Risiken habe abschätzen können: „Es war wirklich eine einmalige Sache in der Historie, dass der Kapitalmarkt so zum Erliegen gekommen ist. Man kann das den Bankern nicht vorwerfen. Weil das Szenario, das wir jetzt in den letzten zwei Jahren erlebt haben, was ganz Spezielles ist. Das hat sich keiner vorstellen können.“

Wenn Sailer auf diese Weise vor allem auch sich selbst von jeder Verantwortung entlastet, so offenbart sich im Eingeständnis, mit der Krise überfordert gewesen zu sein, auch ein persönliches Charakteristikum. Sailer, der gerne mit seinem professionellen Jagdinstinkt renommiert, ist in Wirklichkeit ein Gehetzter, dem das Scheitern dicht auf den Fersen ist. Zwar glaubt er, bereits von neuem Witterung aufnehmen zu können, da die Märkte langsam wieder funktionieren und größere Anlagepositionen Gewinne versprechen. Doch steht hinter allem die ständige Angst, zu versagen oder eine wichtige Transaktion zu verpassen. Schon kleinste Fehler oder „Nichterreicher“ könnten ihn den Arbeitsplatz kosten, wie er plötzlich mit der Wortwahl gewöhnlicher Arbeitnehmer fortfährt. Getrieben vom Anspruch, zu den Besten zu gehören, läuft er tatsächlich einer Existenzangst davon, die ihn manchmal wie die Aussicht auf ein drohendes Unheil überkommt. Entlastung verspricht seine Vorstellung, nach der die Welt der schnellen Gewinne und rapiden Verluste nur eine Episode in seinem Leben darstellt: „Also, wenn ich ganz ehrlich bin, hoffe ich, dass ich in zehn Jahren irgendwo ein kleines Lokal habe oder einen kleinen Biobauernhof, und da komplett was anderes mache, sag ich Ihnen. Weil irgendwann steht’s einem bis hier oben!“

Das Buch „Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“ der Soziologen Sighard Neckel (Professor an der Uni Wien) und Claudia Czingon (Projektassistentin) umfasst 31 Porträts von Bankern und Bankerinnen und erscheint im Juni bei Suhrkamp.

Schlagwörter: , ,
12. Februar 2010

Volkssport Apple durch den Kakao ziehen

Andrea Maria Dusl hat sich die iPad-Parodien auf Youtube angesehen und weiß jetzt, wie der Schmäh rennt

Monatelang hatte die Gerüchteküche gebrodelt. Computer-Sterndeuter und Gadget-Propheten hatten auf ihren Blogs mit Namen und Aussehen des neuen Geräts gedealt. Nicht irgendeines neuen Geräts. Eines neuen Apple-Geräts. Nach iMac, iPod und iPhone schlug bald die Stunde des neuen iJawasdennjetzt. Die einen wussten, es würde iSlate heißen, die anderen tippten auf iTablet. Photogeshoppte Schnappschüsse und 3-D-Entwürfe des geheimen Projekts zirkulierten durch die Geekforen. Einmal sah das Ding aus der nächsten Welt aus wie der abgeschraubte Bildschirm eines Notebooks, dann wieder wie ein aufgeblasenes iPhone. Analysten hörten das Gras wachsen und gaben im Tagestakt neue Visionen über Cupertinos kommenden Geniestreich bekannt.

Elektrobilderrahmens aus der Ramschecke

Die Einzigen, die schwiegen, waren die Jungs und Mädchen im Infinite Loop, dem Silicon-Valley-Hauptquartier von Apple. Als der Hohepriester des Appleismus am 27. Jänner um 10 Uhr pazifischer Zeit die Bühne des Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco betrat, durfte er sicher sein, einen größeren Krater in die Medienwelt zu schlagen. Steve Jobs, Computerguru, nach einer Lebertransplantation zu einer hageren Gestalt mit hohlen Wangen mutiert, überraschte die Welt mit genau dem, was sie sich vom Gadget-Imperium Apple erwartet hatte. Die eierlegende Wollmilchsau, das Gerät, das alles kann und das jeder braucht. Na ja, fast. Mit der Präsentation des iPad öffnete Apple nicht nur neue Tore für die Consumer-Elektronik, der Computerkonzern setzte auch eine ganz andere Maschinerie in Gang. Die große, weite Welt der Apple-Parodie bekam neues Futter. Und was für welches! Ein Gerät mit dem Aussehen, nun ja, eines Elektrobilderrahmens aus der Ramschecke, mit einem Namen aus dem Herrenwitze-Himmel. Heißt der neue Geniestreich Steve Jobs‘ doch, ähem, Slipeinlage. Monatsbinde.

iParodie

Der erste iPad-Witz-Clip, der auf Youtube durch die Decke ging, musste gar nicht einmal neu produziert werden. Er war schon 2005 gedreht worden. Von der Parodistentruppe MADtv. Alfred E. Neumanns Kollegen vom Fernsehsketch hatten in prophetischer Voraussicht ein präsumtives Hygieneprodukt aus dem Hause Apple durch den Kakao gezogen. Auf www.youtube.com/watch?v=lsjU0K8QPhs vertiefen sich zwei affektierte amerikanische Bürotussis in der Parodie eines Werbespots in explizitem Talk über Strategien und Produkte zur persönlichen Monatshygiene. Die Dialoge schürfen ihr Comedy-Gold aus der Zweitbedeutung des Wortes Pad, das im Amerikanischen so viel wie Slipeinlage bedeutet. Im Finale des Clips tanzen überfröhliche Hippiemädchen in einer Parodie der legendären Apple-iPod-Spots: schwarze Silhouetten vor buntem Hintergrund – das weiße Kultgerät zwischen den Beinen.

In einem CNN-Bericht stellen sich zwei der Original-Akteure, Schauspielerin Arden Myrin und Gagschreiber Bruce McCoy, die durchaus berechtigte Frage, ob bei Apple womöglich keine Frauen arbeiten. Und selbst wenn dem so wäre, wie könnte man so lange an einem Produkt und seinem Marketing forschen, ohne auf die Doppelbedeutung des Wortes Pad zu stoßen?

Sketch

Ebenfalls aus den Tiefen der Hygienefaktor-Archive kommt der National-Lampoon-Sketch „TamPod„. Zwei Freundinnen stehen am Rand einer College-Sportbahn und stretchen ihre trainierten Körper. Im Stil einer Tampon-Werbung diskutieren sie die Absorptionsqualitäten des neuen TamPods. So angenehm, so saugfähig, so zuverlässig! Haben sich die bei Apple das nicht angeschaut? Oder etwa doch? Wie auch immer, Apple schulde ihnen was für die Inspiration zum iPad, meinen die Macher des National-Lampoon-Sketches trocken.

Metaebene

Eine Metaebene höher geht ein anderer Clip ans Werk. Im Stil der Apple-Werbetestimonials sprechen Mac-affine Geeks vor blütenweißem Hintergrund Klartext. Als Apple- Parodie-Autoren seien sie begeistert, bekennen die Nerds, man brauche keine Witze über das iPad schreiben, das iPad mache die Witze ganz von selbst. Amir Blumenfeld, dicke Brillen, legeres Hemd, Senior Vice President der Firma Size Jokes ist begeistert über das Riesen-iPhone. Sam Reich, T-Shirt, Vollbart, Brille wird als Senior Vice President der Firma Wordplay vorgestellt und referiert über die Qualitäten des iPads als Star von Monatshygienewitzen. Sarah Schneider, Typus Publizistikstudentin, ist Senior Vice President von Kindle Jokes, einem erfundenen Unternehmen, das Witze über Amazons E-Book-Reader unter die Leute bringt: Neue Zeiten brechen an! Wir betreten Comedyneuland, jubelt ein Pullovernerd mit Vollbart, ebenfalls Vizepräsident, zuständig für Gags über Unbrauchbarkeit. Auf den Punkt bringt es schließlich Dan Gurewitch, Präsident von Meta Jokes, im wirklichen Leben Stand-up-Comedian: Es ist, als hätte das iPad einen großen „Kick me“-Zettel am Rücken kleben. Die Parodisten von „College Humor“ haben nicht unrecht: „Dieses Produkt wird die Art verändern, wie wir Späße über Apple machen.“

Amateur

Neben professionellen Witzemachern tummeln sich auch Privatkomödianten auf Youtube und ähnlichen Web-Portalen. Max von TruckTVGermany zum Beispiel, ein Halbtrottel mit aufgemaltem Schnurrbart, er kalauert vor der Fahrerkabine eines Renault-Trucks und erklärt am Objekt, wie man aus einem alten Laptop ein iPad macht. Brachialhumor für die Jungs aus dem Dorf. Ähnlich derb ist der Witz von „Rambo“. Auf www.youtube.com/watch?v=4yFlq17pVm4 sieht man den verwackelten Packshot einer Slipeinlage mit Apple-Logo. Der Off-Text orientiert sich am trockenen Stil der Gadget-Blogger-Reviews. Er ist beileibe nicht der Einzige. Das Genre der iPad-Verarschungen wächst nahezu stündlich um neue Clips aus den Kinderzimmern dieser Welt.

Wirklich lustig sind hingegen die Bearbeitungen zweier legendärer Filmszenen. In der Neusynchronisation von Gus Van Sants berühmter Barszene aus Good Will Hunting gibt Matt Damon einen stotternden Depp, dem ein aufgeblasener Apple-Computernerd reindrückt, was ein iPad ist.

Der Untergang

Mit der unfreiwilligen Komik, die die deutsche Sprache für amerikanische Ohren hat, spielt eine köstlich untertitelte Sequenz aus Oliver Hirschbiegels „Der Untergang„. Hitler tobt. Das neue Apple-Tablet ist da. Der Führer wütet. Es hat keine Kamera, es läuft nicht unter OSX, es ist nicht multitaskfähig, und telefonieren kann man damit auch nicht.

Wie sagt Stand-up-Comedian Gurewitch? „Das iPad wird die Art verändern, wie wir Späße über Apple machen!“

Andrea Maria Dusl

Schlagwörter: , , , ,