23. Mai 2011

Wie der Nachtschwärmer zum senilen Bettflüchter wird

Der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich mit dem Alter kontinuierlich nach vorne – Schweizer Forscher haben sich angesehen, woran das liegt

Der Fachausdruck für die innere Uhr lautet zirkadianer Schrittmacher, sitzt im sogenannten Nucleus suprachiasmaticus des Gehirns und befindet sich in steter Verbindung mit Taktgebern in den Körperzellen. Diesen Rhythmusgebern ist es zu verdanken, dass die meisten Menschen, je nach dem über welche genetischen Grundlagen sie verfügen, entweder als Lerche, sprich: Frühaufsteher, oder als Eule, also Morgenmuffel, durch einen Teil ihres Lebens gehen.

Ab dem 20. Lebensjahr tritt allerdings eine allmähliche Veränderung ein: der Schlaf- und Wachrhythmus verschiebt sich kontinuierlich Richtung früher, bis wir im Alter an der berühmten frühmorgendlichen senilen Bettflucht leiden. Schweizer Wissenschafter sind nun der Frage nachgegangen, welche Faktoren für den Wechsel im Ablauf der inneren Uhr verantwortlich sind. Die Antwort fanden sie im Blut.

„Sklaven-Uhren“ in den Zellen

Biologische Uhren kontrollieren eine Vielzahl tagesrhythmischer Prozesse wie Schlaf, Körpertemperatur, Blutdruck, Hormonausschüttung und Verdauung. Diese Aktivitäten werden von zirkadianen Schrittmachern gesteuert. Diese werden durch das Licht, das durch die Augen einfällt, synchronisiert und kommunizieren mit anderen Uhren, den sogenannten „Sklaven-Uhren“, die in den meisten Zellen unseres Körpers vorkommen.

Diese Zellen stellen die für die zirkadiane Rhythmik (den inneren Rhythmus, die innere Uhr) wichtigen Uhren-Gene dar. Die Uhren-Gene und die von ihnen codierten Proteine wirken in einer komplexen negativen Rückkopplungsschleife zusammen und sie generieren zelluläre molekulare Rhythmen. Ein zirkadianer Rhythmus besitzt eine Periodenlänge von rund 24 Stunden. Die Periodenlänge der inneren Uhr hängt von der genetischen Ausstattung ab. Zudem ist es möglich, Organismen zu züchten, die aufgrund unterschiedlicher Mutationen in Uhren-Genen eine interne Uhr mit längerer oder kürzerer Periodenlänge haben.

Von der Nachteule zum senilen Bettflüchter

Bei Menschen können zwei Hauptkategorien von Chronotypen unterschieden werden: Der Lerchentyp ist frühmorgens frisch und munter, der Eulentyp blüht viel später auf. Interessanterweise verändert sich mit zunehmendem Alter der Chronotypus und die Periodenlänge der inneren Uhr nimmt ab. Ungefähr ab dem 20. Lebensjahr, nachdem während der Pubertät die innere Uhr auf nachtaktiv gepolt war, erfährt sie einen Wendepunkt, indem sie sich dann nach und nach Richtung früher verschiebt bis wir – im Alter – an der berühmten senilen Bettflucht leiden.

Der Frage, warum dieses Phänomen im Alter auftritt, sind nun Wissenschafter von der Universität Basel und der Universität Zürich nachgegangen und haben in einer Studie die molekularen Mechanismen dieser altersabhängigen chronobiologischen Veränderung untersucht. Aufgrund der Tatsache, dass eine zirkadiane Uhr in den meisten unserer Zellen, also auch in peripheren Zellen existiert, wurde eine neue von Brown entwickelte Untersuchungsmethode genutzt, nämlich die Gewinnung und Kultivierung peripherer Zellen einzelner Versuchspersonen, um die molekularen genetischen Eigenschaften der individuellen Uhren bestimmen zu können.

Leuchtende Taktgeber durch Feuerfliegen-Gene

Im Rahmen der Studie wurde 18 jungen (21-30 Jahre) und 18 älteren Versuchspersonen (60-88 Jahre) eine winzige Hautbiopsie entnommen. Die gewonnenen humanen Primärkultursysteme wurden mit einem Gen der Feuerfliege so modifiziert, dass sie Licht (Biolumineszenz) emittieren können. Da die Expression des Feuerfliegengens von einem Uhren-Gen (Bmal-1) kontrolliert wird, kann somit dessen zirkadiane Aktivität visualisiert werden.

Die individuellen rhythmischen Expressionsmuster der Fibroblastenkulturen von jungen und älteren Spendern wurden über 5 Tage erfasst. Somit war es möglich, individuelle zirkadiane Perioden am Menschen ex vivo/in vitro zu analysieren. Die Forscher fanden heraus, dass im Gegensatz zu den gut dokumentierten altersabhängigen Änderungen im Schlafverhalten, die zirkadiane Periodenlänge in Fibroblasten von jungen und älteren Spendern in vitro nicht verändert war.

Faktoren im Blut

Interessanterweise änderte sich dieses Verhalten jedoch, wenn die gleichen Zellen – egal ob „jung oder „alt“ – mit humanem Serum, das von älteren Personen stammte, statt mit Standardserum (FSC) behandelt wurden. In Analogie zu den in-vivo-Daten reagierten die Zellen mit einer Verkürzung ihrer Periodenlänge. Die Verkürzung trat jedoch nicht auf, wenn Serum von jungen Kontrollpersonen verwendet wurde.

Die Studiendaten zeigten damit erstmalig, dass das Zusammenspiel der molekularen Komponenten der inneren Uhr im Alter nicht per se verändert ist. Die Studienmacher/innen vermuten, dass zirkulierende thermolabile Faktoren für die Modulation der zirkadianen Rhythmik im Alter verantwortlich sind. Diese sind hormonellen Ursprungs und könnten damit auch durch pharmakologische Interventionen behandelbar sein.

Abstract
PNAS: Serum factors in older individuals change cellular clock properties

23. Mai 2011

Schleichwerbung „flächendeckendes“ Phänomen

ZeitungenIn heimischen Tages-zeitungen wimmelt es von Schleichwerbung, konstatiert der PR-Ethik-Rat. Als Beweis für dieses offene Geheimnis präsentierte der PR-Ethik-Rat am Freitag eine Studie, in der mehrere Tages-zeitungen, Nachrichten- und Special-Interest-Magazine nach versch. Formen von Schleich-werbung durchforstet wurden.

550 Beiträge wurden gesichtet, 325 davon waren „kritisch im Sinn der Fragestellung“, so Studienautorin Ursula Seethaler bei einer Pressekonferenz. Grundsätzlich sei das Phänomen „ein flächendeckendes“, wobei Schleichwerbungen in Boulevardmedien „deutlich häufiger“ auftreten, als in anderen Zeitungen. Insgesamt konnten die Studienautorinnen acht verschiedene Typen von Schleichwerbung festmachen. Das für den Leser größte Problem ist aber die Anpassung von redaktionellen Anzeigen an das journalistische Umfeld. Das heißt, selbst wenn bezahlte Beiträge gekennzeichnet waren, was bei zwei Dritteln der Fall war, ließen sie sich aufgrund der gestalterischen Ähnlichkeit kaum von journalistischen Beiträgen unterschieden.

Irreführend seien auch falsche Kennzeichnungen. Laut Gesetz muss unter einem bezahlten Beitrag „Anzeige“, „entgeltliche Einschaltung“ oder „Werbung“ stehen. Vor allem bei Serien und Sonderbeilagen könne man allerdings stattdessen „mit freundlicher Unterstützung von“, „in Kooperation mit“ oder „eine Initiative von“ lesen. „Solche Kennzeichnungen sind überdies oft kaum sichtbar und die Kooperationspartner werden unkritisch positiv dargestellt“, hieß es.

Besonders lax ist der Umgang mit Schleichwerbung laut Studie in den Ressorts Reisen, Wellness, Essen und Gesundheit. Entsprechende Artikel mit nicht korrekt deklarierten redaktionellen Inseraten seien demnach vor allem in der „Kronen Zeitung“, in „Heute“, „Österreich“, dem „Format“ und den „Vorarlberger Nachrichten“ gefunden worden. Kritisch wurden auch Sonderwerbeformen wie Sonderbeilagen oder Themenstrecken beleuchtet, die vor allem dazu dienten inseratenfreundliche Umgebungen zu speziellen Themen zu schaffen. Hier monieren die Studienautoren, dass oft völlig unklar ist, „ob redaktionelle Artikel eingebaut oder die Seiten vollständig aus bezahlten Beiträgen bestehen“.

Angesichts der weiten Verbreitung von Schleichwerbung fordert der PR-Ethik-Rat und allen voran sein Vorsitzender Wolfgang Langenbucher, eine „Anpassung der gesetzlichen Regelungen für die Kennzeichnung entgeltlicher Einschaltungen“. Die Kennzeichnung müsse „gut sichtbar“ sein, außerdem müsse es im Mediengesetz eine eigene Regelung für Medienkooperationen sowie einen erhöhten Strafrahmen für nicht deklarierte Werbung geben, so Langenbucher.

Im Rahmen der vom Ethik-Rat in Auftrag gegebene empirische Studie wurden im Oktober 2010 folgende Zeitungen untersucht: „Kronen Zeitung“, „Heute“, „Österreich“, „Kleine Zeitung“, „Der Standard“, „Die Presse“, „Oberösterreichische Nachrichten“, „Tiroler Tageszeitung“, „Vorarlberger Nachrichten“, „Niederösterreichische Nachrichten“, „profil“, „Format“ und „Woman“.

23. Mai 2011

Mateschitz bringt Sohn als Nachfolger ins Spiel

(c) sueddeutsche

Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, 67, hat einen „Nachfolger im Sinn“, schreibt das US-Wirtschaftsmagazin „Bloomberg Businessweek“ in seiner aktuellen Ausgabe. Im Gespräch mit der „Businessweek“ bringt der Red-Bull-Chef seinen Sohn Mark ins Spiel: „Mein 19-jähriger Sohn wird nach Beendigung seiner Ausbildung in das Unternehmen einsteigen, wenn er will und wenn die Zeit reif ist.“

Anfang April hatte das Wirtschaftsmagazin „trend“ berichtet, dass der Sohn des Red-Bull-Gründers eine erste Funktion im Firmengeflecht des Vaters übernommen hat. „Seit Jänner ist er Co-Geschäftsführer und Co-Gesellschafter der Dietrich Mateschitz Verwaltungs OG, die einen Mini-Anteil an der 2005 erworbenen Gesellschaft Braun & Co. hält“, schreibt das Magazin. Ansonsten sind in der Gesellschaft aber keine anderen Firmenanteile von Mateschitz geparkt.

Der Anteil sei ein „aus vertraglichen Gründen zustande gekommener symbolischer Anteil“ und sei „ausschließlich privater Natur“ und „hat nichts mit Red Bull zu tun“, erklärte damals die Red-Bull-Pressestelle gegenüber dem „trend“.

Im Jahr 2004 hatte sich Mateschitz in einem seiner selten Interviews gegenüber dem Schweizer Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ zur Frage seiner Nachfolge wie folgt geäußert: „Red Bull ist eine GmbH, in der ich Gesellschafter bin. So wird es bleiben, bis ich beurteilen kann, ob mein Sohn die Nachfolge antreten möchte und kann.“

Als Erfinder der Red-Bull-Rezeptur hält die thailändische Unternehmerfamilie Yoovidhya 51 Prozent am Unternehmen. Dietrich Mateschitz besitzt 49 Prozent an der Red Bull GmbH.

Der Energydrink-Konzern hat im Geschäftsjahr 2010 das bestes Ergebnis seiner Geschichte erzielt: Der Unternehmensumsatz legte im Vergleich zu 2009 um 15,8 Prozent auf 3,79 Mrd. Euro zu. Der Absatz stieg um 7,6 Prozent auf 4,2 Milliarden Dosen. Die Expansion geht aber noch weiter: Für das zweite bis dritte Quartal 2011 ist der Markteintritt in China geplant. Derzeit wartet man bei Red Bull noch auf die behördliche Zulassung.

23. Mai 2011

Die US-Band Gang Gang Dance spielt auf „Eye Contact“ weltoffenen Pop zwischen Avantgarde und hybrider Weltmusik

Das neue Album des New Yorker Bandkollektivs Gang Gang Dance startet mit einer programmatischen Durchsage: „I can hear everything. It’s everything time.“ Und tatsächlich verhält es sich so, dass die insgesamt zehn sehr gern auch mit Endlos- oder Unendlichkeitssymbolen betitelten Stücke auf eine Form stilistischer Grenzenlosigkeit verweisen, die vor allem von einem Charakteristikum geprägt ist: Die „Songs“ des in Manhattan beheimateten Quartetts haben keinen Anfang – und sie nehmen sehr oft kein Ende.

Daraus folgt keinesfalls Beliebigkeit. Ähnlich wie die offenen Bandmodelle des deutschen Krautrock der 1970er-Jahre, allen voran Can aus Köln, aber auch Popol Vuh, haben sich die seit Anfang der 2000er-Jahre bestehenden Gang Gang Dance auf ihrem neuen Album Eye Contact für eine offene Versuchsanordnung entschieden. Stets mit dem Anspruch auf Zugänglichkeit und Pop im weitesten Sinn im Hinterkopf, werden so während länglicher Improvisationen Songstrukturen entwickelt, die auf gemütlich groovender Rhythmusbasis einen multikulturellen Feuertopf aufkochen. Er erschließt sich gerade auch über die Herkunft der Bandmitglieder. Griechische Folklore, asiatische Melodieführung, dazu allerlei Zufütterung aus weltmusikalisch geprägten Plattensammlungen zwischen Karibik, Balkan-Polka und aktuellen Dancefloor-Mustern aus den Bereichen Grime oder House ergeben so bei Stücken wie Adult Goth, Chinese High oder Mindkilla ein zirpendes und klingelndes Durcheinander, das einzig von den Drumpatterns in halbwegs straffer Form gehalten wird.

Der mäusemäßige, aus verstopften Stirnnebenhöhlen kommende piepsende Gesang von Lizzie Bougatsos manövriert das Unternehmen zwar recht entschieden an etwaigen Verkaufshitparaden vorbei in Richtung eines längst überflüssig gewordenen Avantgarde-Postulats. Nicht umsonst haben Gang Gang Dance schon vor einigen Jahren beim Donaufestival gastiert. Speziell der Track Romance Layers aber legt nahe, dass Gang Gang Dance auch sehr viel technoiden Computer-R’n’B aus den 1980er-Jahren, wie etwa Janet Jacksons Album Control und dessen Hit Nasty, gehört haben.

(Christian Schachinger / DER STANDARD, Printausgabe, 20.5.2011)

14. Januar 2011

Im Netz mit Sophie Rois

Schauspielerin Sophie Rois kann etwas, das selten ist: Unterhaltung und Hochkultur verknüpfen. Nächste Woche kommt sie mit Tom Tykwers Komödie „Die Drei“ ins Kino. Selbst ihr Applaus klingt intelligent. Eine Begegnung.

In der holzvertäfelten, dunklen Kantine der Berliner Volksbühne hängen dicke Rauchschwaden. Es wird Bier aus der Flasche getrunken, die Bühnentechniker essen Bulette im Brötchen und Kartoffelsalat aus dem Eimer. Die Schauspieler hocken zusammen, um nach der Vorstellung der vierstündigen Castorf-Inszenierung „Der Kaufmann von Berlin“ zu entspannen. Eine Historienrevue, 1929 von Walter Mehring geschrieben, über das geldgeile, militaristische Weimardeutschland und den unaufhaltsamen Aufstieg der Nazis. Irre viel Text, viel Wahnsinn auf der Bühne, die Souffleuse hat ordentlich zu tun, der Zuschauer auch. Aber egal, Kunst muss man nicht immer verstehen, dabei sein ist hier alles. Wir sind an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Und nicht an der Komödie am Kurfürstendamm.

Auf dem Sims einer Eckbank steht eine weiße Papiertüte mit dem Schriftzug Yves Saint Laurent. Schwarze Prägeschrift auf weißem Karton. Eine Satinschleife verwehrt den Blick ins Innere. Die Schauspielerin Sophie Rois hat sie dort abgestellt und holt sich am Tresen ein Glas Rotwein. Auf der Bühne war sie gerade als der jiddelnde „Kaftan“ in zu großen Schuhen, mit angeklebtem Bart und Pelzmütze zu sehen. Mittlerweile trägt sie wieder ihre Alltagskleidung, wobei das irgendwie das falsche Wort ist für ihre schwarzen Reiterstiefel, die von Hermès sind. Dazu: enge Jeans, feiner Strickpulli, wuchtige Goldkette.

In dem leicht muffigen, total basisdemokratischen Volksbühnen-Ambiente wirkt Rois in dem Aufzug herrlich deplatziert, dabei gehört sie seit 13 Jahren zum Ensemble. Sie ist ein seltener Hybrid: Die Tochter eines Lebensmittelhändlers wurde in einem kleinen Dorf in Oberösterreich geboren. Viel zu eng für Rois. Sie bewarb sich nach der Schule in Wien am Max-Reinhardt-Seminar, zog nach Berlin, jobbte und traf Anfang der Neunziger Frank Castorf.

Heute wird sie vom Theaterpublikum beklatscht, aber dreht auch anspruchsvolle Stoffe fürs Fernsehen oder Kino. Warum das so bemerkenswert ist? Weil man sich in Deutschland in der Regel für das eine oder das andere zu entscheiden hat: E oder U. Ernstzunehmende Kunst oder Unterhaltung. Schwarze Schnürstiefel wie aus den 30er Jahren (des deutschen Schauspielers Favorit) – oder halt Hermès.

Rois hat kein klassisches symmetrisches Gesicht, sondern ein altersloses, zartes und dabei fuchsschlaues. In etwa so, wie man sich die Frau vorstellt, die Chet Baker in „My funny Valentine“ besingt. Viele erkennen sie auch erst, wenn sie sie hören. Sie hat eine Stimme zum Gläserzerspringenlassen: durchdringend, leicht quietschig, dabei etwas angeraut und sich manchmal überschlagend. Rois kann mal schmeichelnd wie ein Kaschmirschal klingen. Und dann wieder so nervig wie eine Vuvuzela. Frauen wie sie werden in Amerika „The thinking man’s Sex Symbol“ genannt. Früher waren sie in Filmen wie „All about Eve“ oder „Sunset Boulevard“ zu sehen, später hießen sie Judy Davis oder Diane Keaton und spielten in Woody Allens Beziehungskomödien. Bei uns ist der Typus der talentierten Exzentrikerin so selten, dass man über jedes einzelne Exemplar dankbar sein muss.

Sophie Rois ist 49, und „nein, ich kann dieses Klischee mit den Frauenrollen nicht bestätigen, im Gegenteil, ich habe einen Karriereschub, seit ich jenseits der vierzig bin“. Liegt das an ihr? „Vielleicht an der Fähigkeit, sich einzuschätzen und dann eine Ansage zu machen. Als 20-Jährige war ich total verloren und auch als 30-Jährige hatte ich noch nicht dieses Selbstbewusstsein.“

Und alles jubelt

Im letzten Jahr glänzte Rois in „Der Architekt“, leise, aber bezwingend in einer kleinen Rolle neben einem polternden Josef Bierbichler. Dafür wurde sie mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet. Für das Pollesch-Stück „Mädchen in Uniform“ bekam Rois kürzlich den Deutschen Theaterpreis „Faust“ verliehen. Und nächste Woche startet „Drei“, die Berliner Beziehungskomödie von Tom Tykwer, in der Rois als Kulturjournalistin Hanna zwischen zwei Männern hin- und herpendelt und von beiden begehrt wird. Es geht um Großstadtmenschen um die vierzig, die im konventionellen Sinne erwachsen, aber trotzdem noch auf der Suche sind. Deren gemütliches Leben durch einige Schicksalsschläge, gepaart mit Zufälligkeiten, noch mal so richtig schön durcheinandergerät.

Den ganzen Film über ist man gespannt darauf, wie Rois auf diese oder jene Situation reagieren wird. Warum? Weil sie nie so reagiert, wie Frauen es sonst in modernen Beziehungskomödien tun. Als ihr Freund mit Krebs im Krankenhaus liegt, weint sie nicht, sondern neckt ihn. Sie motzt rum, dass er langweilig sei, nennt ihn „Baby“ und wirft sich bockig und in Highheels auf ihn drauf. Sie trägt beim Betrügen keine Spitzenwäsche, sondern olle Unterhemdchen und sieht gerade deshalb sexy aus. Steht in Nylonstrumpfhose in der Küche und denkt laut über das Renovieren nach. Stöckelt in Stiefeletten über den Bolzplatz und hängt sich an eine Fußballclique dran, um einen Flirt voranzutreiben.

Schon beim Drehbuchschreiben hatte Regisseur Tykwer für die Rolle der Hanna nur Sophie Rois vor Augen. „Wir kannten uns nur flüchtig, ich hatte sie in Bucks ,Wir können auch anders‘ und an der Volksbühne gesehen. Ich hätte den Film nicht gemacht, wenn sie nicht zugesagt hätte.“ Warum gerade sie? „Weil sie eine rare Spezies unter den deutschen Schauspielerinnen ist. Sie ist schlau und schön. Eine moderne Diva, die sich nicht so leicht einer Epoche zuordnen lässt. Mit Sophie kann man eine Figur auf Augenhöhe erarbeiten, sie ist ein echtes Gegenüber. . .“

Gerade sitzt die so Gelobte im Café Einstein, Kurfürstenstraße, und sticht mit der Gabel in die Pommes ihres Steak Frites. Sie kommt soeben aus dem Studio, in dem sie „Neid“ von Elfriede Jelinek als Hörbuch einliest. Ihre Stimme apropos? Klar, die habe sie von ihrem Vater geerbt, der wäre auch immer schon von weitem zu hören gewesen. Wenn sie mit ihrer Schwester im Café saß, sei oft jemand an den Tisch gekommen und hätte darum gebeten, dass sie mit dem Streiten aufhören. . . Rois lacht. Natürlich laut.

Bevor man fragen kann, warum sie eigentlich so dünn ist, sagt sie: „Ich bin ein sehr nervöser Mensch. Wenn ich acht Stunden Schlaf zur Verfügung habe, liege ich drei davon wach und denke darüber nach, was ich alles noch erledigen muss.“ Dann würde man das jetzt auch gerne noch erfahren: Wie ist ihr Alltag, wo genau findet bei all den Geschichten anderer Menschen die eigene statt? Hat sie ein anstrengendes Leben? So was Stinknormales wie Hobbys? Eine Beziehung? „Ich habe keinen Ehemann, kein Haus und kein Auto.“ Kinder? Sie überlegt, isst ihre Pommes plötzlich nicht mehr mit der Gabel, sondern mit den Fingern und antwortet fest: „Ich habe mich dagegen entschieden, nicht widerspruchsfrei. Ich kann meine Ratlosigkeit nicht an ein Kind weitergeben. Ich glaube, dass ein Kind einen Anspruch auf emotionale Sicherheit und Verlässlichkeit hat, die ich nicht bieten kann. Was nicht heißen soll, das ich mich nicht manchmal nach einem Kind sehne.“

Sophie Rois also, die alters-, klischee- und familienlose; irgendwie hatte man sich das genau so gedacht.

Am Abend der Berlin-Premiere von „Drei“ bittet Tykwer dann „die Königin“ auf die Bühne. Rois trägt Rock und den Inhalt aus der YSL-Tüte: eine hochgeschlossene, schwarz-weiß gemusterte, leicht durchsichtige Bluse. Sieht irre gut aus. Alles jubelt.

Selbst ihr Applaus klingt intelligent. (Antje Wewer)

Zur Person:

Sophie Rois wurde 1961 in Österreich geboren. Sie studiert am Wiener Max-Reinhardt-Seminar und geht dann nach Berlin. Seit 1993 ist die überzeugte Großstädterin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz engagiert und zählt dort zu den auffälligsten Schauspielern.

Trotz ihres Rollenfachs der hochdramatischen Underground-Diva bei Regisseuren wie Frank Castorf, René Pollesch oder Christoph Schlingensief überzeugt sie auch in Filmen („Wir können auch anders“ von Detlev Buck, „Die Siebtelbauern“ von Stefan Ruzowitzky) und im Fernsehen. Für ihre Darstellung der Erika Mann in „Die Manns“ von Heinrich Breloer bekommt sie 2002 einen Grimme-Preis in Gold.

Sophie Rois tritt auch als Sängerin und in zahlreichen Hörspielen auf.

Mit der Titelrolle der Medea (frei nach Euripides) am Schauspiel Leipzig erfüllt sie sich gerade – in der Regie von Clemens Schönborn – einen Herzenswunsch.

16. November 2010

Ride on the Wave de la Rave…

Um auf diese extra ordinäre Band wieder aufmerksam zu machen, gibt es hier ein Video von den Tangerine Turnpike…

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16. November 2010

Alles verranzt, verschissen, verkorkst, vermilbt

„Songs Of L. And Hate“: Christiane Rösinger schreibt Klagelieder zum Mitsingen und Mitleiden

50 Jahre alt wird Christiane Rösinger kommenden Jänner und kann immer noch so authentisch traurig klingen wie ein kleines Mädchen, dem die Eiskugel aus der Tüte auf den Boden geplumpst ist. – Was den Tonfall anbelangt, mind you, nicht die Wortwahl: So verschlissen und verrissen, so verbissen und verschissen / So verschleimt und verkeimt und versport … Der Song „Verloren“ kommt mit nicht mehr als einer Aneinanderreihung von Partizipien, einem einfachen Pianoakkord und in der Steigerungsstufe mit Schlagzeug und Gitarre aus – und, oh, welche Dramatik, kommt dabei doch zustande. Die Mundharmonika am Schluss hätt’s gar nicht mehr gebraucht.

ast sieht es wie ein Familienfoto aus, wenn Rösinger gemeinsam mit einem weiteren Wahlberliner das Cover von Bob Dylans Album „Bringing It All Back Home“ aus 1965 nachstellt: Sie gibt den Altmeister selbst, Andreas Spechtl von Ja, Panik wirft sich gekonnt in die Pose der Ehefrau von Dylans damaligem Manager. Nur das herumliegende popkulturelle Verweisgut hat sich etwas aktualisiert – unter anderem ragt im Hintergrund die Debüt-Platte von Rösingers erster Band, den Lassie Singers, ins Bild. Ist auch schon wieder fast 20 Jahre her.

„Aber fragt mich einer: Wie ist dir’s zumute? Grad so, als ob das Herz recht angenehm verblutet.“

Nach dem Ende der Lassie Singers legte Rösinger einen fliegenden Wechsel zu Britta hin, und spätestens hier wurde es zur Trademark, die schon zuvor oft und gerne geschmähte Liebe nur noch als das L-Wort zu bezeichnen … daher die logische Abwandlung des (fast) gleichnamigen 1971er Albumtitels von Leonard Cohen. Womit das Zitate-Spiel – trotz Zusammenarbeit mit Spechtl, der derlei Strategien mit seiner Band auf ein neues Level gehoben hat – auch schon wieder vorbei ist. „Songs Of L. And Hate“ enthält auch nur eine einzige Coverversion, nämlich Jackson Brownes „These Days“, das die meisten unweigerlich mit Nicos dunkler Stimme verbinden werden. In Rösingers ins Deutsche übertragener Version wird der Schwebezustand, in dem sich der Song zu befinden scheint, noch leichter – zugleich schlägt Rösinger damit eine Brücke zu ihrem legendären Lied „Phase“ aus Lassie Singers-Zeiten, das bei einem Blutdruck von 15:6 zustande gekommen sein muss.

Rösinger bzw. Britta gebührt auch die Ehre, Ja, Panik schon lange vor dem später einsetzenden Hype Rosen gestreut zu haben – die musikalische Zusammenarbeit mit Spechtl kann daher nicht verwundern. Die Breaks und Tempowechsel in den Songs „Es geht sich nicht aus“ und „Es ist so arg“ erinnern am stärksten an das, was man von Spechtls Band kennt – und beide, im Bundesdeutschen nicht so übliche, Formulierungen unterstreichen den Einfluss noch einmal. Spechtl spielt Gitarre, Schlagzeug und Klavier und hält sich gesanglich weitgehend im Hintergrund. Das Gstanzl „Berlin“ stimmen die beiden aber gemeinsam an: „Wenn die Parkausflügler dann die Schwäne füttern und die Allerblödsten es gleich weitertwittern / Wenn die Ökoeltern sich zum Brunchen treffen und die Arschlochkinder durch die Cafés kläffen / Ja, dann sind wir alle in Berlin …“ Wäre leicht, das beim nächsten Gastspiel in „hier in Wien“ umzumodeln, schließlich passt es 1:1.

„Die Midlife-Crisis? Die hatte ich doch schon! Ich warte auf die Altersdepression.“

Nur selten geht es ins Uptempo, wie beim Lassie-Singers-Boogie „Haupsache raus“; meistens gibt Rösinger zu sparsamer Instrumentierung die Knef des Prekariats. Während Hildegard vor 60 Jahren aber noch Friedrich Meyers „Illusionen“ besang, ist Rösinger schon lange bei der „Desillusion“ angekommen. Insbesondere das Stück „Sinnlos“ enthält einen derartigen Overkill an Elend, dass man dabei nicht ganz ernst bleiben kann. Klar, Rösinger spielt mit der Traurigkeit und bietet sie als Gemeinsamkeit schaffende (und damit letztlich aufbauende und sogar aufheiternde) Erfahrung an. Dass das durchaus drollig wirken und damit zum Problem werden kann, wenn frau etwas wirklich ernst meint, dürfte Rösinger aber bewusst sein.

… weshalb einige Stücke jenseits aller Liebäugelei liegen: Sei es „Es geht sich nicht aus“, die Schimpftirade „Verloren“ oder das mit einer sanft gezupften Gitarre und ein wenig Hall auskommende Schlussstück „Kleines Lied zum Abschied“. Da wird nicht auf Pointen und Mitsingen geschielt, das ist einfach nur ehrlich: „Und wär es nicht so furchtbar traurig / Ich hätt mich tot gelacht.“

16. November 2010

Dieser Weg wird kein leichter sein

Keith Richards veröffentlicht mit „Life“ seine seit Jahren angekündigte Autobiografie

Der Gitarrist der Rolling Stones festigt damit seinen Status als Erfinder von Sex, Drogen und Rock’n’Roll.

Der alte Mann auf dem Sofa kratzt sich behaglich im Schritt. Dann nimmt er einen kräftigen Schluck Jack Daniels und erzählt dem Walkman mit leichtem Zungenschlag vom Krieg: „Sie haben sich ein Fantasiebild von mir gemalt, sie haben mich gemacht, die Leute da draußen haben sich diesen Volkshelden geschaffen. Ist ja auch in Ordnung. Ich werde alles tun, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie wollen, dass ich Dinge tue, die sie nicht tun können. Sie haben ihre Arbeit, sie haben ihr Leben, sie sind Versicherungsvertreter – aber gleichzeitig lebt in ihrem Inneren ein tobender Keith Richards. Sie haben das Drehbuch geschrieben, und darin bist du der Volksheld, also halte dich dran. Und ich habe mein Bestes gegeben.“

Gut zehn Millionen US-Dollar Vorschuss hat Keith Richards vor Erscheinen seiner jetzt im gesamten mit Major Tom und Freizeitchemie erreichbaren Universum in diversen Sprachen wie Englisch, Französisch. Mandarin, Bantu und Fuckyou vorliegenden Autobiografie mit dem lakonischen Titel Life erhalten. Das sind von hier bis zum Mond so viele Whiskeyflaschen als Behelfstreppe, dass man gar nicht ins Leere steigen muss, um zu Fuß dorthin zu gelangen. Anders gesagt: Wer wissen will, wie sehr ein Mensch leidet, muss ihm unbedingt beim Feiern zusehen. Keith Richards hat diesbezüglich schon Party gemacht, als wir noch gar nicht geboren waren.

In der mit über 700 Seiten gar nicht einmal so schmal bemessenen deutschen Übersetzung des weltweit bekanntesten Vertreters in Sachen Ausschweifung mit musikalischer Begleitung finden sich allerdings nicht die großen unbekannten, noch nie gehörten und sensationellen Wahrheiten, die man im marketingtechnisch hochgejazzten Vorfeld von Life erwarten wollte.

Der Weg von Keith Richards ist sicher kein leichter gewesen. Vor allem in Sachen toxischer Missbrauch kann man dem mittlerweile 66-jährigen Gitarristen und prototypischen Zerrbild eines Rockmusikers absolut gar nichts vormachen. Jemand, der nach jahrzehntelanger Heroinabhängigkeit noch immer auf dutzenden Seiten darüber schreibt, dass ihm die Droge dazu diente, konzentrierter und effizienter arbeiten zu können, um im gleichen Atemzug der Weltjugend einen mahnendes „Don’t try this at home! “ nachzurufen, hat aber seine sieben Zwetschken definitiv nicht beisammen.

Man muss als Leser gar nicht besonders sittlich gefestigt sein, um sich bei der Lektüre einer mit einstweiligen Haftbescheiden, Einreiseverboten und Bewährungsauflagen reichlich gesegneten Biografie des Rolling-Stones-Faktotums heftig erregen zu können. Allein die Schilderung seiner Europa-Tournee Mitte der 1970er-Jahre mit seinem damals im Vorschulalter befindlichen Sohn schreit nach Jugendamt. Als einziges vernunftbegabtes Familienmitglied einer mit dem Ex-Model Anita Pallenberg als Mutterbiest ideal besetzten Junkie-Sippe war Sohn Marlon damals damit betraut, den guten Vater rechtzeitig vor den Konzerten aus dem Wachkoma zu holen. Die Kollegen aus der Firma trauten sich nicht, weil Keith stets mit einem Revolver unter dem Kissen zu Bett ging. Während der Reise durch diverse Mehrzweckhallen und Polizeihauptkommissariate ist man dann auch schnell dafür motiviert, Mick Jagger zu rehabilitieren.

Sex und Kalauer

Von Keith Richards mit diversen Schwanzlängenvergleichen und Kosenamen wie „Brenda“ oder „Her Majesty“ verhöhnt, war immerhin der als geld- und machtgierig verschrieene Sänger dafür verantwortlich, dass unser Spargeltarzan an der Riffgitarre weitermachen durfte, weil er mehrere Male kurzfristig erfolgreich auf Entzug geschickt und vor dem Gefängnis bewahrt werden konnte.

Keith Richards selbst kalauert sich derweil als der Welt ältester Teenager (strafmündig, aber nicht für voll zu nehmen) durch Flughafenwitze mit Gummihandschuh. Er navigiert zwischen Brüsten von dicken schwarzen Muttergefühlsaufbringerinnen in den frühen 1960er-Jahren (Die USA galten für Briten seit jeher als Land, in dem man Sex haben kann!) und landet bei der Frau seines besten Freundes. Richards bedauert kaltschnäuzig den frühen und immer wieder von Mord- und Verschwörungstheorien umwaberten Tod von Stones-Gitarrist Brian Jones im Swimmingpool. Keith Richards dazu: „Wahrscheinlich ist er jemandem auf die Nerven gegangen.“ Und es wird in diesem Buch auch sonst so ziemlich alles unternommen, um zwischen Marokko (Drogen), West Sussex (harte Drogen), Kanada (absurd harte Drogen) und New York (kontinentalplattenverschiebende, mächtig harte Drogen) unvernünftig und asozial zu bleiben.

Der große Wurf, als den diese Anekdotenhäufung beworben wird, ist Keith Richards nicht einmal im Ansatz gelungen. Zu gallig klingen die sexistischen Witzchen („Feministinnen, was wären sie ohne die Rolling Stones?“) oder die ermüdenden Beleidigungen seiner „Arschloch-Freunde“, um über eines hinwegtäuschen zu können: Keith Richards als altes Riffmonster der einst besten Band der Welt hat seit 1980 keinen anständigen Song mehr zustande gebracht. Alles was danach kam und nicht ganz peinlich klingt, stammt aus der Feder von Lebensfeind Mick Jagger. Prost Mahlzeit.

Keith Richards interview Andrew Marr Show Oct 2010 Part 1

16. November 2010

Einer, der sich nicht zähmen ließ

Der in Paris lebende Schweizer Schriftsteller Paul Nizon wird am Montag mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet

Zürich 1974: Es war ein warmer, fast vorsommerlicher Apriltag, als Federico Fellinis Film Amarcord über (s)eine Jugend im faschistischen Rimini in den Schweizer Kinos anlief und Paul Nizon, den der italienische Regisseur lange schon „wie ein Stern“ begleitet hatte, im Zürcher Tagesanzeiger schrieb: „Fellini erfindet keine Filme. Er zeigt , das Leben‘, er zeigt es in seiner anarchischen Wildheit und blendet es an in seiner Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, (…). Es ist das gewöhnliche Leben von jedermann, aber in seinen Filmen wird es zur atemberaubenden Saga. Er (Fellini) ist der Clown, der ihnen für Momente und Stunden die Augen öffnet, bevor er sie wieder entlässt. Er hat sie zum Lachen und Weinen gebracht, er hat sie gerührt, durcheinandergebracht und erschüttert. Er hat sie in den Reigen gespannt. Sie werden sich noch eine Weile ,erinnern‘ an ,das Leben‘.“

Vieles, was Nizon über Fellinis Film schreibt, nahm und nimmt er auch für seine eigene Arbeit als Schriftsteller in Anspruch: die Feier der Liebe und des Augenblicks, die Glückssuche, das Jagen nach dem „richtigen“ Leben, dem einen, das nottut, die Amalgamierung von Erinnerung und Gegenwart, das Beharren auf Glanz und einer poetischen Weltsicht, auch wenn die Zeichen anders stehen.

Ein Jahr zuvor, Ostersamstag 1973, hatte Nizon in seinem Journal notiert: „Ungeheure Tiefs mit finsterster Bedrückung, geballte Aggression und viel Lethargie, die ganzen Tage durch.“ Und in der Tat waren die letzten Jahre, das letzte Jahrzehnt eigentlich, schwierig gewesen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und den Job als leitender Kunstkritiker der NZZ, Familie und Sicherheit in die Waagschale geworfen, um Schriftsteller zu werden. Der Erfolg stellte sich zögerlich ein – und Nizon tat das, was er in solchen Situationen immer tut: „Durchhalten. Weitergehen.“

Wiederum 36 Jahre später, 2009, Nizon lebte mittlerweile schon mehr als drei Jahrzehnte in Paris, sollte es dann dieser 1929 in Bern als Sohn eines russischen Emigranten und einer Schweizerin geborene Autor sein, dem als erstem noch lebenden Schriftsteller (später folgten ihm Hans Magnus Enzensberger und Amos Oz) die Ehre zuteilwurde, mit einem 1500 Seiten umfassenden Band mit allen bisher geschriebenen Erzählungen, Romanen und Journalen in der renommierten Quarto-Reihe des Suhrkamp Verlags zu erscheinen – und in dieser Bibliothek der „Weltliteratur und des Wissens“ in einer Reihe mit Autoren wie Foucault, Brecht, Joyce, Bernhard, Marguerite Duras, Cioran, Frisch und Kafka zu stehen.

Undressierbar

Zu Recht, wie viele meinten – auch als Nizon mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet wurde, der ihm am Montag von Bundesministerin Schmied übergeben wird. Nizon ist hier kein Unbekannter: Elias Canetti war sein Trauzeuge, mit Max Frisch und Ingeborg Bachmann war er befreundet, wenn er in Österreich las, reiste Thomas Bernhard an, H. C. Artmann besuchte ihn in Paris, und Handke sieht Nizon als einen „der am wenigsten dressierten Schriftsteller, inmitten der zunehmenden Dressiertheit, Fremdgelenktheit der anderen; undressierbar“.

Undressierbar: Nizon trug in den 1960er-Jahren, als man deswegen bei Linken und Progressiven definitiv noch auf die Reaktionärs-Liste kam, Anzug und Krawatte, posierte mit Zigarette im Mundwinkel in Filmstarmanier auf einer Seine-Brücke für Fotografen – natürlich im Trenchcoat samt Sonnenbrille -, schrieb zu einer Zeit, als von Schriftstellern politische Statements und Themen erwartet wurden, über Persönliches und Erotik (was er immer noch tut) – und tönte dabei großartig, sein Platz unter der Sonne sei im Nachtlokal. Er legte sich mit Kritikern an und verhielt sich insgesamt wie ein Boxer, der in der neunten Runde merkt, dass er nur verlieren kann. Es sei denn, er landet einen Lucky Punch.

Nicht wenige Schweizer Schriftsteller der mittleren Generation, etwa Hansjörg Schertenleib oder Silvio Blatter, sagen, Nizon habe sie zu Lesern gemacht – zu Schriftstellern sowieso. Und der NZZ-Kritiker Samuel Moser schreibt, Nizon sei einer, der sich nicht einfangen lasse: „Früher nicht, jetzt nicht, nie.“ Was stimmt, allerdings hat die Schriftsteller-Inszenierung Nizons Werk mehr geschadet, als sie ihm nützte, und wenn man sich an den Lou- Reed-Sager hält, dass es besser sei, nichts von dem, was man hört, und die Hälfte dessen, was man sieht, zu glauben, und das Äußere der schillernden Autorenfigur ausblendet, ergibt sich bei der Lektüre der Werke Nizons ein anderes, differenzierteres Bild.

Nämlich das einer Schriftstellerpersönlichkeit, die sich als „Autobiografiefiktionär“ im wahrsten Sinn das Leben erschreibt und schreibend sich selbst, nein, dem Leben auf der Spur ist. Es werden bei der Lektüre die Konturen eines Ich sichtbar, das um eine poetische Weltsicht kämpft, um ein Schreibleben, um jedes Buch, um jeden Satz, „der sozusagen ein Heimkehrer aus dem Krieg sein muss, der überleben konnte“.

Das Unterwegssein und Nichtankommenkönnen sind Grundmotive in Nizons Werk, dem auch das Ringen um Schönheit, Form und der Kampf gegen die Auflösung, das drohende Nichts eingeschrieben sind. In kreisenden Suchbewegungen skizziert dieser Autor, der sich in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Am Schreiben gehen (1985) als „Lebenssucher“ bezeichnet, mit existenzieller Wucht und federleichtem Stil Ausgänge aus einer vom Ich als beengend und lebenstötend empfundenen Welt. In exemplarischer Weise schreibt Nizon, oft anhand des eigenen Lebens, über das Ringen um Helligkeit und Schönheit, die für ihn im schöpferischen Akt der Sprache, im Alltag und in der Liebe gefunden werden können.

Das hat in seiner existenziellen, radikalen Ausrichtung in der heutigen Zeit fast schon etwas Romantisches, etwas Tröstliches auch.

Berühmt, nicht erfolgreich

Obwohl er sich in Frankreich – vor allem mit den großen Parisromanen Jahr der Liebe (1981, ein Mann, der neu in der Stadt ist, beginnt, ausgehend von einem Pariser Hinterzimmer, sein Leben neu), Im Bauch des Wals (1989, in dem sich die Leitmotive der Suche nach dem Leben, der Gegenwart der Stadt und der Frauen wiederfinden), Hund Beichte am Mittag (1998, ein Streuner, der alles hinter sich ließ, wendet sich der Vergangenheit zu) und Das Fell der Forelle (2005, über einen Liebesversehrten, der aus Welt und Zeit fällt) – Kultstatus erschrieb, halten sich die Auflagen seiner Bücher in engen Grenzen (Wal 10.000, Jahr der Liebe 20.000, Hund 13.000).

Im deutschen Sprachraum sieht es ähnlich, eher schlechter aus. Hier ist er, obwohl seine Bücher etwa in Hamburg zur Schullektüre zählen und es in jeder Runde, in der über Literatur geredet wird, einen (seltener eine) gibt, der oder die alles von diesem Autor gelesen hat, unterschätzt geblieben.

Er sei ein „berühmter, erfolgloser Schriftsteller“, sagte Nizon vergangenes Jahr. Warum? Im Interview mit dem Standard meint er dazu: „Mein Schreiben ist eine auf Selbstfindung, Positionierung und Haltsuche angelegte individualistische Arbeit. Eine Jagd auf mich selbst. Vielleicht hat die Verhinderung, mit dem großen Publikum Kontakt aufzunehmen, mit diesem selbstausgräberischen Element zu tun, das nicht jedermanns Sache ist. Im Grunde genommen verfertige ich, wenn ich schreibe, ein Einzelstück. Ich wende mich an ein Leser-Du – und nicht an einen großen Markt.“

Und Houellebecq, der mit seinem neuen, soeben mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman La carte et le territoire in Frankreich gerade wieder für Furore sorgt? Nizon: „Ich habe den Roman gelesen, und er hat mich gefangen genommen. Michel Houellebecq hat allerdings eine vollkommen andere Weltsicht, die mit Poesie nicht unbedingt viel zu tun hat. Seine Bücher laufen sehr gut, sie sind von ihrer epischen Struktur her für ein großes Publikum geschrieben, sie richten sich nicht an den eigenen inneren Menschen oder einen Partner. Sie sind marktgängig, aber von einem sehr respektablen Niveau.“

Zu tun hat die für die Qualität dieser Literatur erstaunlich geringe Verbreitung der Werke Nizons vielleicht auch mit dem Etikett „Männerliteratur“, das relativ schnell auf Nizons Bücher, in denen öfter „maisons de rendez-vous“ besucht werden, gestempelt wurde. Zudem lehnt es dieser Autor ab, lineare Geschichten, zu schreiben: Vielmehr sind seine Bücher nach musikalischen Prinzipien konzipiert und komponiert, mit verschiedenen Tempi, Auftakten und wiederkehrenden Motiven. Und nachdem er es sich mit den deutschen Kritikern verdorben hatte, machte er sich in der Schweiz mit seinem Langessay Diskurs in der Enge (1970) schließlich auch keine Freunde. Während Walter Benjamin – mit Blick auf Robert Walser – einmal vermutet hatte, helvetische Literaturarbeit sei das Ergebnis „keuschen, kunstvollen Ungeschicks in allen Dingen der Sprache“, weitete Nizon in Diskurs in der Enge diese These aus. Die schweizerische Kunst sei provinziell, es fehle ihr an Welthaltigkeit und Urbanität. Die Schweiz lehne jede Partizipation mit der übrigen Welt ab, mit Ausnahme jener durch unsichtbare Finanzverflechtungen. Der Oberteufel heiße Utopie, Stoffe gebe es nur für den Psychiater, und das Land sei insgesamt ein „Avantgardist des Todes“.

Nicht nur in Nizons Büchern, deren Schauplätze Bern, Rom, der Spessart, Barcelona und Paris, immer wieder Paris sind, ist das Grenzüberschreitende wichtig, es ist dem Autor in die Familiengeschichte geschrieben. Deshalb hält er auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur nicht nur finanziell (25.000 Euro) für den bedeutendsten Preis, mit dem er ausgezeichnet wurde. Nizon: „Dass es eine europäische Auszeichnung ist, freut mich ungeheuer. Mein Vater war Russe, ich wuchs mit italienischen und spanischen Emigrantenkindern auf, die Eltern meines Vaters sind in London begraben, wo ich zwei Jahre lebte und meine Tochter, die in erster Ehe mit einem Engländer verheiratet war, studierte. Meine Schwester wurde durch Heirat Italienerin, ein Sohn lebt in den USA.“

Das hat Nizons Blick auf Gesellschaftliches geschärft. Zwar gilt der passionierte Zeitungsleser als unpolitisch, in seinem subversiven Beharren auf Subjektivität und Individualität ist er aber politischer als manch „Engagierter“. Vor allem der Regierungschef seiner Wahlheimat, Nicolas Sarkozy, ist ihm ein Dorn im Auge.

So gab er einer Schweizer Zeitung zu Protokoll: „Eine geistlose Managerregierung. Ein Präsident wie der Schneider im Himmel, (….) ein Hampelmann an der Spitze, unbefleckt von Kultur, von Format. Was doch immerhin noch eine Rolle spielte bei einem Landesvater wie Chirac, der zwar als politischer Serienkiller verschrien war; aber er war kein Parvenu, er hatte doch so etwas wie Postur, Humanität, und er war letztlich eine vertrauenswürdige bürgerliche Figur, auch wenn er hie und da in die Staatskasse griff. Während der jetzige eine französische Karikatur von Berlusconi ist, wenn man das so sagen kann.

Wenn die reale Macht auch woanders liegen mag als bei den Regierungen, so färbt die Mentalität der Regierenden doch sehr auf die allgemeine Lebenslage ab. Unter Mitterand, der eine Sphinx war, ein Künstler der Macht, aber eine wirklich große kulturelle Persönlichkeit, war man anders beschirmt als bei diesem kleinformatigen Ubu.“

Bilder

„Ich kann es nicht sagen, mein Vater, vielleicht kann ich’s reisen“, heißt es in Nizons ungestümem Erstlingsroman Canto (1963), einem Vater- und Rombuch, das in seiner offenen Form mit nichts damals im deutschen Sprachraum Bekanntem vergleichbar ist, und Protokoll einer Reise lautet der Untertitel der Erzählung Untertauchen, die von einem Mann handelt, der im Auftrag seiner Zeitung nach Barcelona fährt und dort seiner bürgerlichen Existenz verlustig geht, indem er sich der Liebe hingibt, fraglos, selbst- und pflichtvergessen, ohne Reserve, bedingungslos, bis zur Erschöpfung. Dafür muss man bezahlen in unserer Welt.

Vielleicht hat aber bei Nizon, der einmal sagte, er hoffe, seine Bücher würden im Leser aufgehen, „wie sich japanische Papierblumen im Wasser öffnen“, alles nicht mit den Worten, die für ihn die Welt bedeuten, sondern mit Bildern, der Sprachlosigkeit, begonnen: mit dem Bild des Vaters, eines Chemikers und erfolgreichen Erfinders, der in der riesigen Berner Wohnung verdämmert und früh an multipler Sklerose stirbt – ein Schock für den 13-jährigen Nizon, der ein Jahr lang in der Schule überhaupt nicht mehr „funktioniert“. Mit dem Bild von arbeitenden Frauen, Mutter und Tante, welche die zwanzig Zimmer der Wohnung zur Pension umfunktionieren mussten. Mit dem Bild des gartenreichen Länggassquartiers, Nizon wird es einmal das „Revier des Falken“ nennen, durch das in sanften Schwaden Schokoladegeruch der nahegelegenen Toblerfabrik zog. Mit dem Bild des jungen Mädchens schließlich, in das sich der 12-jährige Gymnasiast verliebt und das ihm auf die Frage, ob es mit ihm gehen möchte, antwortete: „Ich muss es mir überlegen.“

Es sind diese Bilder, die sich durch Nizons erste Bücher Canto, Im Hause enden die Geschichten (1971), Untertauchen (1972) und auch Stolz (1975), einen Roman über die Ich-Gefangenschaft des titelgebenden Helden, der nicht zufällig an Büchners Lenz erinnert, ziehen. Später kamen andere Bilder hinzu, bewegte von Cassavetes und Fellini (ein großer Kinogänger ist Nizon noch jetzt) und statische von Chaim Soutine, Giacometti und Van Gogh, über den Nizon nach seinem Kunstgeschichtestudium promovierte.

Nimmt man nun den Quarto-Band, einen dicken Ziegel, zur Hand, der fast das gesamte Werk dieses singulären Schriftstellers umfasst, wird klar, dass zwischen Nizons Erstling, dem Erzählband Die gleitenden Plätze (1959), und seinem bislang letzten Roman Das Fell der Forelle Meilen liegen – und ein ganzes Leben. Das Leben eines Menschen, der nie eingestiegen und doch immer wieder ausgebrochen ist, der daran glaubt, dass man nur aus einer starken Emotionalität, aus einer großen Teilnahme – „das heißt entweder aus Liebe oder Hass“ – schreiben kann, und der sich lange mit dem Weggehen, Grenzüberschreiten, Verlassen aufhielt.

Dichtung

Dürrenmatt schrieb in einem Brief: „Ich denke oft an dich. Ich sehe dich finster und verschlossen in Paris herumlaufen. (…) Indem ich in deinem Untertauchen lese, wird mir deutlich, was bleibt, was Bild geworden ist, was, damit es Bild geworden ist, wieder zum Wort werden kann, ist Erinnerung, und ich meine damit das Gegenteil von Erdichtung: sind doch gerade die meisten Erinnerungen Erdichtungen, oft großartige: Proust. Reine Erinnerungen aber sind Dichtungen, das heißt nicht Sprachlust, Beschwörung, Wortmagie, sondern das Fallenlassen der Gründe, die ja in der Erinnerung gleichgültig werden, so gleichgültig wie die Zwecke. Doch für die Erinnerung zahlen wir mit Leben, und um zu leben, verbrauchen wir uns, unsere Zeit. Der Tribut, den du entrichten musst, ist verdammt teuer, mag das Resultat noch so kostbar sein.“

Paul Nizon, für den Schreiben etwas Körperliches ist, ging weite Wege, ausgesetzt dem Sirren der Stadt, der Verzweiflung, dem Glück, der Liebe und der lautlosen Explosion der Knospen im Frühling. „Ich bin nicht hier und dort und anderswo. Ich bin nur hier“, heißt es im Bauch des Wals. Daher ist für Nizon immer das jeweils nächste Buch, Der Nagel im Kopf lautet sein Arbeitstitel, das wichtigste. Nizon wird seiner Maxime, die er früh schon in einem Essay formulierte, auch in diesem Werk treu bleiben: „Meine heutige Vorstellung von einem Buch ist diese: Dinge des Lebens ohne Gerüst als eine Art Alltag in die Seiten einschwärmen lassen. Das Ganze filtern und zur Partitur verwandeln, bis es zur Stimme erstarkt und den Ton der unerhörten Kunde gewinnt, den Einmaligkeits- und Allgemeinwert mit drängenden Untertönen des Erinnerns. Es wäre bezeugt von einem authentischen Menschen, dem sich die Zunge löst. Ich schreibe in allen meinen Büchern am selben Buch. Es ist das Buch des Lebens. Viele vor mir haben damit begonnen, ich mache weiter, andere werden es fortführen.“

16. November 2010

Wo die wilden Wandas wohnen

Gut schauma aus: Satiriker Dirk Stermann über ein seltsames Land namens Österreich und das, was Deutschen dort widerfahren kann

Das Auge, sagt Goethe, sieht sich selbst nicht, aber das gilt natürlich nicht nur für das Auge, das gilt auch für den Österreicher. Auch der Österreicher sieht sich selbst nicht. Und weil es uns Österreichern so häufig an einer adäquaten Selbstwahrnehmung mangelt, brauchen wir dringend Feedback von außen, wie zum Beispiel vom türkischen Botschafter oder von Dirk Stermann, der einen kongenialen Hälfte des hoch- und tiefkomischen Satirikerduos Stermann-Grissemann. Die sagen uns dann, wie wir wirklich sind.

Anders als die Schlagzeilen dieser Tage vermuten lassen, sind ja auch nicht die Türken die wahre Problem-Minorität in Österreich, sondern Deutsche wie Stermann. Die Deutschen nehmen uns die Studienplätze weg. Sie erinnern uns konstant dran, dass man die Entnazifizierung auch besser hätte machen können. Und sie stoßen uns ständig mit der Nase darauf, wie schlecht wir Österreicher eigentlich Deutsch sprechen. Kein Wunder also, dass die rachsüchtige Geißelung der Verwendung von Germanismen („dufte“, „gerade mal“) zu den österreichischen Nationalpassionen gehört. Um uns nur ja von Deutschland abzugrenzen, behauptet Stermann, sprechen wir sogar Deutschlandsberg als Deutschlands berg aus.

Wie nehmen die Deutschen Österreich wahr? Dazu hat der Rheinländer Stermann, der 1987 als „naiver Internationalist“ nach Wien gekommen und hier hängengeblieben ist, ein ebenso interessantes wie witziges Buch geschrieben. Stermann schöpft tief aus Austro-Stereotypen und -Klischees, gleichzeitig versteht er es aber, seinen persönlichen Beobachtungen einen anarchischen Spin zu geben, der das Klischeehafte gleich wieder um Häuser transzendiert. Gleich auf den ersten Seiten ein Beispiel hierfür: Da trägt ein Austro-Bsuff lautstark öffentlich „Es wird ein Wein sein, und wir wern nimma sein“ vor. Anders aber, als man es annehmen würde, ist es nicht ein beleibter alternder Heurigenbesucher, der diesen wienerischen Sentimentalitätsklassiker röhrt, sondern ein Zwölfjähriger in einer Straßenbahn am Floridsdorfer Spitz. „Wahrscheinlich ein Tscheche oder ein Slowake“, wie Stermann maliziös hinzufügt.

Stermann stellt sich dem seltsamen Austro-Personal mit offenen Sinnen und unverhohlener Sympathie. Im Krankenhaus schließt er Freundschaft mit der Zuhälterin Wanda Kuchwalek alias der „Wilden Wanda“ („Der Deitsche und i san Freind. Ned woar, Deitscha? Wir Hinnigen miassn zsammhalten.“), er trift auf furzende Taxifahrer („a klassischer Eierschaaß“), resolut depressive Würstelfrauen („Mir geht’s gschissn“) und ORF-Abteilungsleiter, trinkt Ribiselwein in Kritzendorf („Kritz-les-Bains“), ja sogar eine Vorarlbergerin kreuzt seinen Weg. So geschult gelingt es Stermann, sich ganz im Sinn des traditionellen Entwicklungsromans nach und nach zu austrifizieren bzw. zu „entpiefkeniesieren“, wie es im Romanuntertitel heißt. Aller satirischen Heiterkeit zum Trotz ist Sechs Österreicher unter den ersten Fünf aber auch eine durchaus ernsthafte Reflexion über das So-Sein und das Anders-Sein; über nationale Identitäten und über eine gelungene Selbstpreisgabe ans Fremde, wobei das Fremde in diesem Fall einmal nicht „die Ausländer“, sondern wir Österreicher selbst sind. Ein nicht nur duftes, sondern geradezu leiwandes Buch, mit manch einer beherzigenswerten Einsicht: „In Österreich sollte man am besten nur kurze Sätze schreiben (…). Sätze, wie Marlene Streeruwitz sie formuliert: ,Ich. Gehe. Jetzt.‘ Solche Sätze kommen aus kleinen Ländern. In Flächenstaaten wie Kanada oder Australien kann man Schachtelsätze bilden, aber in Österreich nicht.“

Dirk Stermann

Dirk Stermann, „Sechs Österreicher unter den ersten Fünf. Roman einer Entpiefkenisierung“.

€ 16,95 / 265 Seiten. Ullstein Verlag, Berlin 2010