Archive for ‘Die Existenz’

4. Januar 2010

Wenn der Mensch wie Vieh behandelt wird

Infolge des Zweiten Weltkriegs waren Millionen Menschen auf der Flucht. Ein polnisches, nun auch auf Deutsch veröffentlichtes Buch beschreibt das Leid von Deutschen, Polen, Ukrainern und Juden

Frauen in Wintermänteln irren durch die Ruinen einer Stadt. Auf dem Rücken tragen sie Bündel mit Habseligkeiten. An der Hand halten sie kleine Kinder. Der Himmel ist grau verhangen. Alle frieren. Doch wer sind sie? Deutsche auf der Flucht vor der Roten Armee 1945? Polen, kurz vor dem Abtransport zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich 1940? Juden im Warschauer Ghetto 1943? Ukrainer in Lemberg, die ins Innere der Sowjetunion deportiert werden?

Das Titelbild des Atlanten Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung könnte für alle Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa von 1939 bis 1959 stehen. Für die der Polen und Juden, der Deutschen und Ukrainer, der Litauer und Weißrussen, der Tschechen und Slowaken. In Polen wurde das Buch als bestes populärwissenschaftliches Werk des Jahres 2009 mit einem Historikerpreis ausgezeichnet. Nun hat es der Weltbild-Verlag in Augsburg in deutscher Sprache herausgebracht.

Die Vertreibung ist ein Thema, das in Polen immer wieder heftig diskutiert wird. Nicht nur deshalb, weil ein gewaltiger Nachholbedarf besteht: Bis 1989 durfte im kommunistisch regierten Polen weder über die Vertreibung der Deutschen gesprochen werden noch über die Massendeportationen der Polen in die Sowjetunion. Auch die Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber den Juden war ein Tabu, ebenso die Vertreibung der Ukrainer durch die Polen.

Die Ideologie von den „wiedergewonnenen Gebieten im Westen“ sollte darüber hinwegtäuschen, dass Stalin die polnische Kriegsbeute aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 nach Kriegsende behalten durfte. Während in Westdeutschland die Vertriebenen ihre angeblich „ungerechtfertigt hohe Strafe für den Zweiten Weltkrieg“ beklagten, mussten die Polen schweigen. Die eigene Vertreibung aus den „Kresy“, den polnischen Ostgebieten mit den Städten Lemberg, Wilna und Grodno, wurde euphemistisch als „Repatriierung“ bezeichnet. Dabei mussten die meisten Ostpolen 1945 in den von den Deutschen verlassenen Gebieten neu anfangen. In Schlesien, Pommern und Ostpreußen war alles fremd. Von einer „Heimkehr ins Vaterland“ konnte keine Rede sein.

Auch die Geschichtspolitik in Deutschland über den Heimatverlust und das Unrecht der Vertreibung sorgt in Polen immer wieder für Aufregung. Denn die Ersten, die ihre Heimat verloren, waren keine Deutschen. Die Vertreibung begann 1939 mit dem Überfall Hitlers und Stalins auf Polen.

Das Buch zeigt genau dies auf. Hitlers „völkische Flurbereinigung“ begann mit der „Heim ins-Reich“-Politik. Den Balten- und Rumäniendeutschen, den Wolhynien-, Galizien- und Bessarabien-Deutschen, die sich in Trecks auf den Weg machten, hatten die Nazis bessere Bauernhöfe in „Großdeutschland“ versprochen. Im Warthegau wurden Polen und Juden massenweise vertrieben, um Platz für die Siedler zu machen.

Im Kreis Zamosc (Zamosch) in Südostpolen vertrieben die Nazis die Einwohner aus rund 300 Dörfern, verschickten die einen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich, die anderen in KZs und Arbeitslager und ermordeten viele an Ort und Stelle. Die Kinder, so sie blond und blauäugig waren, wurden den Eltern geraubt, mit dem Zug nach Deutschland geschafft und dort an „rassisch einwandfreie SS-Familien“ verteilt.

Während die Deutschen ihren Teil des besetzten Polens mit Ghettos, KZs, Arbeits- und Durchgangslagern überzogen, deportierten die Sowjets aus dem von ihnen besetzten Teil Polens hunderttausende Menschen nach Sibirien. Wie die Deutschen benutzen auch die Sowjets vorwiegend Viehwagons zum Transport der Menschen. Viele starben an Hunger, Kälte, Entkräftung. Die Deutschen ermordeten Polens Elite in „Intelligenzaktionen“, die Sowjets erschossen über 20.000 Reserveoffiziere. Damit wollten Hitler wie Stalin verhindern, dass aus Polen jemals wieder ein souveräner Staat werden könnte.

Im Buch wird auch die Evakuierung, Flucht und Vertreibung der Deutschen in den Westen ausführlich geschildert. Aber auch die Massendeportationen der Deutschen ins Landesinnere der Sowjetunion 1944 und 1945 kommen nicht zu kurz. Zahlreiche Karten zeigen den sich immer weiter nach Westen schiebenden Frontverlauf und die Fluchtwege. Knapp 7,5 Millionen Deutsche flohen 1944/45 aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches in den Westen oder wurden später von Polen und Russen vertrieben.

600.000 bis 1,2 Millionen Menschen fanden dabei den Tod. Die Gauleiter hatten viel zu spät den Befehl zur Evakuierung gegeben. Viele Frauen und Kinder mussten sich mitten im Winter mit Pferdewagen oder zu Fuß auf den Weg machen. Ohne Beschönigung beschreiben die polnischen Autoren aber auch, wie es in den Lagern für Deutsche vor der endgültigen Aussiedlung aussah.

Das Kapitel über die deutschen Vertriebenen endet mit der „Aktion Familienzusammenführung“: Rund 350.000 Personen verließen in den Jahren 1950 bis 1959 Polen.

Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Ost- und Mitteleuropa 1939 bis 1959. Von Grzegorz Hryciuk, Malgorzata Ruchniewicz, Bozena Szaynok, Andrzej Zbikowski, aus dem Polnischen von Werner Hoelscher-Valtchuk. Weltbild, 253 Seiten, 14,95 Euro

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25. Dezember 2009

Kulturkampf im Dirndl und in Lederhosen

Die Ausstellung „Hast Du meine Alpen gesehen?“ widmet sich jüdischem Alpinismus – und damit der enttäuschten Sehnsucht nach Teilhabe und Zugehörigkeit

Wien – Die Ausstellung Hast Du meine Alpen gesehen? – Eine jüdische Beziehungsgeschichte ist eine echte Herausforderung! Würde nicht jeder meinen, Juden und Alpen – das sei einfach unvereinbar, geradezu widersprüchlich? Stattdessen wird uns hier eine unerwartete „love story“ präsentiert: Juden, die es in die Berge zieht. Das stellt all unsere gängigen Vorstellungen von jüdischer Kultur auf den Kopf.

In diesem jüdischen Alpinismus offenbart sich aber noch eine weitere Sehnsucht als jene nach den Bergen: die tiefe Sehnsucht der Juden zu Beginn des 20.Jahrhunderts nach Teilhabe, nach Zugehörigkeit. Das Bergsteigen wurde, wie die Ausstellung im Jüdischen Museum der Stadt Wien anschaulich macht, zum bevorzugten Medium der Integration. Es versprach nicht nur ein existenzielles Naturerlebnis, es versprach auch, das Individuum „einzugemeinden“.

Exemplarisch zeigte sich diese Hoffnung in der Kleidung. Die Schau präsentiert zahlreiche Bilder von Juden in Trachten und Dirndlkleidern. Eines der skurrilsten Exponate ist eine Kippa bestickt mit Edelweiß, Enzian und Alpenrausch. Die Trachten bleiben aber eine Verkleidung. Man spielte darin Landleben und „fühlte sich durch und durch heimisch“. Man versuchte, sich damit einen Platz als Einheimischer zu schaffen. Heute, im Wissen darum, wie das Ganze ausgegangen ist, betrachtet man diese verzweifelten Versuche mit großer Beklemmung.

Und gerade angesichts heutiger Debatten um Kleiderordnungen zeigen die enttäuschten Hoffnungen der Juden in Lederhosen, dass Assimilation nicht der richtige Weg der Integration ist. Wie ein Kommentar dazu wirken die zahlreichen Fotografien in der Ausstellung, die orthodoxe Juden in ihrer Tracht in den Schweizer Bergen zeigen. Die schwarz gekleideten Gestalten bleiben darin Fremdkörper. Aber nur deshalb, weil wir alle genaue Vorstellungen haben, welche kulturellen Zeichen zur Bergwelt gehören. Hier erfahren wir anschaulich, wie sehr diese unsere Vorstellungen von den Nazis geprägt sind: 1938 erlassen sie ein Trachtenverbot für Juden. Das heißt, sie legen fest, wer das Recht hat, sich als alpenländisch zu identifizieren. Und sie geben vor, wie diese Identifizierung auszusehen hat. Sie hat Lederhosen an.

Die Alpen waren (und sind) der Kampfplatz, an dem Heimat und Zugehörigkeit verhandelt und entschieden wurde. Und die Ausstellung zeigt, wie die Juden diese Auseinandersetzung mit voller Leidenschaft führten – und wie sie sie verloren haben. Symptomatisch dafür ist die Geschichte der Alpenvereine. Diese weisen Anfang des 20. Jahrhunderts fast ein Drittel jüdischer Mitglieder auf. Ja, ein Jude, der Geologe Eduard Sueß, war sogar Mitbegründer des österreichischen Alpenvereins – unvorstellbar aus heutiger Perspektive, wo diese Institution als Inbegriff der Heimattümelei gilt. Dieses Image ist kein Zufall. Bereits 1921 hat der Alpenverein einen Arierparagrafen eingeführt, der alle jüdischen Mitglieder ausschloss. Eine bis dato unaufgearbeitete Geschichte. Umso erfreulicher ist die Mitarbeit des österreichischen Alpenvereins an der Ausstellung.

„Arisierung der Alpen“

Mit dieser Erzählung ist die Schau aber nicht nur eine Herausforderung für das jüdische, sondern mindestens ebenso sehr auch für das österreichische Selbstverständnis. Sie zeigt eine „Arisierung der Alpen“ , die sich als kulturelle Zuschreibung bis heute fortsetzt. Und sie versucht, das ist wohl ihr spannendstes Moment, dem gegenzusteuern. Durch die Erinnerung an einst namhafte jüdische Alpinisten, mehr noch durch die Rekonstruktion der Anfänge des Skifahrens und des Skitourismus.

Die Kuratoren haben die verschüttete Geschichte von Rudolf Gompez ausgegraben, einem Juden, der den Skilauf als modernen Sport ebenso wie den Skitourismus mitbegründet hat. Man muss sich das ganze Ausmaß dieses Unternehmens vor Augen halten: Hier wird ins Kernstück der österreichischen Identität eine jüdische Geschichte eingeschrieben! Das heilige Skifahren, der umfassende Skitourismus, das identitätsstiftende Moment des Alpenländischen schlechthin, wurde von Juden mitbegründet, miterfunden. Das ist wirklich zutiefst subversiv.

25. Dezember 2009

Vorstellung von Unglück

Neue Studie zeigt Zusammenhang zwischen Komatrinken und der Vorstellung, im Alter unglücklich zu sein

Ein nordirisches Team hat den Alkoholkonsum in Nordirland untersucht und dabei festgestellt, dass junge Männer eher zu gesundheitsschädlichem Verhalten wie zum Beispiel Komasaufen neigen, wenn sie davon überzeugt sind, dass es mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird, glücklich zu sein. In der Vorwegnahme eines „unglücklichen“ Alters versuchen sie, das Beste aus der Gegenwart zu machen, schreiben John Garry und Maria Lohan von der Queen’s University Belfast in Nordirland in der Springer-Fachzeitschrift „Journal of Happiness Studies“ (online).

Obwohl die negativen Auswirkungen übermäßigen Alkohol- und Zigarettenkonsums, schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung weithin bekannt sind, trinkt eine große Anzahl Jugendlicher im Übermaß, raucht, isst weder Obst noch Gemüse und verzichtet auf regelmäßige Bewegung. „Könnte es sein, dass gesundheitsschädliches Verhalten vieler Jugendlicher mit ihrer Vorstellung zusammenhängt, dass Glücklichsein mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird?“, fragten sich die ForscherInnen.

Interview-Auswertung

Gary und Lohan werteten über tausend Interviews von Nordiren und Nordirinnen aus, die alle älter als 15 Jahre waren. Die InterviewteilnehmerInnen wurden zu ihrem Alkoholkonsum befragt. Sie wurden gefragt, ob sie Obst und Gemüse essen, rauchen und wie oft sie Sport treiben. Außerdem sollten sie Auskunft darüber geben, wie glücklich sie sich zum Zeitpunkt des Interviews fühlten und einschätzen, wie glücklich sie wohl im Alter von 30 bzw. 70 Jahren wären. Die TeilnehmerInnen, die das 30. bzw. 70. Lebensjahr bereits überschritten hatten, sollten beurteilen, wie glücklich sie sich in diesem Alter fühlen. Die Befragten sollten zudem einschätzen, wie glücklich der Durchschnittsmensch im Alter von 30 bzw. 70 Jahren ist.

Ergebnisse

Obwohl die jungen Leute irrtümlich der Meinung waren, Glücklichsein werde mit zunehmendem Alter immer schwieriger, gab es jedoch in Bezug auf das tatsächliche Glücksempfinden keinen Unterschied in der Selbsteinschätzung zwischen jungen und älteren TeilnehmerInnen. 59 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen wurden als KomatrinkerInnen eingestuft – mehr als die Hälfte der TeilnehmerInnen. Am anfälligsten für Komatrinken zeigten sich junge Männer mit einem pessimistischen Blick auf die Zukunft.

Die StudienautorInnen sind davon überzeugt, dass ihre Erkenntnisse für Gesundheitskampagnen, die junge Menschen über gesundheitsschädliche Verhaltensweisen aufklären sollen, hilfreich sind. Ihr Fazit: „Unsere Erkenntnisse bestätigen, dass der Grund für gesundheitsschädliches Verhalten in der Jugend mit der Vorstellung einhergeht, dass Glücklichsein mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird. Dies trifft insbesondere auf junge Männer zu, die sich einem exzessiven Alkoholkonsum hingeben. Man muss die jungen Leute, und hier insbesondere die jungen Männer, davon überzeugen, dass sich ein geringerer Alkoholkonsum positiv auf ihr Leben auswirkt und Glück im Alter sehr wohl möglich ist.“

Abstract:

25. Dezember 2009

Hält er was er verspricht?

Anhand von Gehirnmessungen lässt sich voraussagen, ob jemand ein Versprechen halten wird oder nicht

Das Versprechen ist eine der ältesten spezifisch menschlichen Verhaltensweisen, welche Kooperationen, Vertrauen und Partnerschaft fördert. Viele soziale und ökonomische Tausch-Situationen im täglichen Leben basieren auf Versprechen – allerdings können diese auch gebrochen werden. An Hand von Gehirnmessungen lässt sich voraussagen, ob jemand ein Versprechen halten wird, hat nun eine Schweizer Studie mit deutscher Beteiligung gezeigt. In ferner Zukunft könnten so vielleicht Betrugsfälle verhindert werden, spekulieren die Autoren.

Messbarer Konflikt

Ein Team um Thomas Baumgartner und den aus Österreich stammenden Ökonomen Ernst Fehr von der Universität Zürich untersuchte die Gehirnaktivität von 26 jungen Männern während eines Geldspiels. Das Spiel war so angelegt, dass Probanden einen finanziellen Vorteil erlangten, wenn sie ein Versprechen brachen. Der Spielpartner hingegen erlitt eine finanzielle Einbuße. Dabei stellte das Forschungsteam fest, dass sich bei Wortbrechern die Aktivität in Gehirnregionen erhöhte, die eine wichtige Rolle bei Emotions- und Kontrollprozessen spielen. Das Gehirnaktivierungsmuster ließ darauf schließen, dass der Wortbruch einen emotionalen Konflikt auslöst, weil die ehrliche Handlung unterdrückt wird.

Die Studie zeigte, dass verräterische Muster der Gehirnaktivierung sogar eine Voraussage erlauben, ob jemand sein Versprechen halten wird oder nicht. Die Forscher ließen die Probanden nämlich vor dem Spiel angeben, ob sie beabsichtigten, das Geld – das ihnen ihr Mitspieler danach anvertraute – zu behalten oder mit diesem zu teilen. Zwar unterscheiden sich Versuchspersonen, die ein Versprechen letztlich halten und solche, die es brechen, zum Zeitpunkt der Versprechensabgabe nicht – beide versprechen hoch und heilig, das Versprechen zu halten. Doch die Gehirnaktivierung entlarvt die späteren Versprechensbrecher schon zu diesem Zeitpunkt.

Vision

Laut Forschern deuten die im Fachmagazin „Neuron“ publizierten Ergebnisse darauf hin, dass Gehirnmessungen bösartige Absichten schon enthüllen können, bevor sie in die Tat umgesetzt wurden. Damit geben sie Visionen Auftrieb, wie sie schon im Hollywood-Film „Minority Report“ von Regisseur Steven Spielberg umgesetzt wurden. Im Film sehen eine Art Hellseher Morde voraus. Eine Spezialabteilung der Polizei zieht die zukünftigen Täter dann aus dem Verkehr.

Dass Gehirnmessungen herangezogen werden können, um betrügerische und kriminelle Machenschaften zu verhindern, liegt laut den Zürcher Forschern aber noch in ferner Zukunft.

Abstract:

25. Dezember 2009

Schwangerschafts-Verbot für GI’s

Kommandeur im Irak will kampfbereite Truppen – Senatorinnen: Weibliche Militärkarrieren würden mit dieser Order schwer abgestraft

Bagdad/Washington – Ein US-Kommandeur im Irak beharrt trotz des Drucks amerikanischer PolitikerInnen auf einem Schwangerschaftsverbot für Soldatinnen in seinen Truppen. Zwar erklärte Generalmajor Tony Cucolo, er habe nicht in Erwägung gezogen, Verstöße gegen die von ihm erlassenen Regel vor einem Kriegsgericht zu ahnden: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dafür einen Soldaten ins Gefängnis stecke“. Am Mittwoch sagte ein Sprecher des Militärs jedoch, der General habe entgegen einiger Medienberichte seine Haltung zu dem Thema nicht geändert.

Verbot, Drogen zu nehmen – und Eltern zu werden

Cucolo kommandiert 22.000 SoldatInnen im Nordirak. Im November hatte er für sie strenge Regeln für Fehlverhalten wie Drogen- oder Alkoholmissbrauch sowie Schwangerschaften verhängt, die über die Vorschriften des US-Heers hinausgehen. Zu den Strafen gehört eine Anklage vor dem Kriegsgericht. Auch verheiratete Paare in Uniform sind davon betroffen. Begründet hatte Cucolo die Regeln mit der Notwendigkeit, möglichst alle SoldatInnen kampfbereit zu halten. Über die genaue Strafe entscheidet der General selbst. Bislang hätten vier schwangere Soldatinnen und vier männliche Soldaten – Partner von werdenen Müttern – einen offiziellen Tadel erhalten, sagte am Mittwoch der Sprecher.

Senatorinnen: Abstrafung von Frauen beim Heer

In den USA lösten die Regeln nicht nur unter Frauenrechtsgruppen Empörung aus. Am Dienstag schrieben vier demokratische Senatorinnen einen Brief an den Staatssekretär des Heeres mit der Aufforderung, die Vorschrift sofort aufzuheben. „Für Frauen, die eine Karriere beim Militär erwägen, kann es nach unserer Ansicht nichts Abschreckenderes geben als das Bild einer schwangeren Frau, die schwer bestraft wird, nur weil sie empfangen hat“, hieß es in dem Brief. Zudem könnten schwangere Soldatinnen aus Angst vor einer Strafe ärztliche Untersuchungen hinauszögern, mit ernsten Folgen für Mutter und Kind.

Die USA haben eine Freiwilligenarmee. Etwa 14 Prozent der SoldatInnen im aktiven Dienst des Heeres sind Frauen.

24. Dezember 2009

Honig von den Dächern New York Citys

Immer mehr Bürger der Millionenmetropole setzen auf Lebensmittel aus der Nachbarschaft

Es ist als habe der Wetterheilige Petrus höchst persönlich nachgetreten. Ein ungemütlicher Winter-samstag im New Yorker Stadtviertel Brooklyn. Aber Todd ist hart gesotten. Der 34-Jährige steht am Grand Army Plaza Wochenmarkt und telefoniert mit seiner Frau: Geht vielleicht auch Broccoli statt Salat? Todd kauft ausschließlich lokale Erzeugnisse, und die gibt es nun mal nicht immer. Lebensmittel aus der Nachbarschaft, meint er, seien besser für die Umwelt, weil keine langen Transportwege anfallen. Lebensmittel aus der Nachbarschaft mitten in Brooklyn?

New York und seine Umgebung gehören nicht zu den Orten, bei denen man zuerst an eine funktionierende Landwirtschaft denken würde: 5571 Hochhäuser, auf den insgesamt 10.200 Kilometer langen Straßen fahren 12.000 Taxis und 4000 Busse. Und doch erlebt ausgerechnet diese Masse aus Beton, Glas und Stahl derzeit einen wahren Landwirtschaftsboom.

Wildkräuter aus dem Central Park

Es gibt Honig von Bienen, deren Körbe auf den Dächern der Wolkenkratzer stehen, Gurken und Tomaten aus Hinterhofzucht, Wildkräuter aus dem Central Park und Käse aus dem Umland. Im Zentrum des Ganzen steht eine lose zusammenhängende Bewegung, die sich „Locavores“ nennt, auf Deutsch: „Nahesser“ . Ihre Anhänger ernähren sich nur von Produkten, die im Umkreis von 200 Meilen produziert werden. Janett kommt jeden Samstag zum Grand Army Plaza in Brooklyn einkaufen – auch der Mitmenschen wegen: „Ich will unseren Farmern eine Chance geben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen“ , sagt sie.

Der beliebteste Stand am Grand Army Plaza heißt Blue Moon. Gabriella verkauft dort Barsche, Kabeljau und Austern aus dem nahegelegenen Long Island. Wenn die Fischersfrau nicht hinter dem Marktstand steht, fährt sie mit dem Kutter aus. Der Job ist ihr Leben. „Wir sind wie eine große Familie“, sagt sie.

Andere Marktverkäufer nutzen den Locavores-Trend, um zu expandieren. Bryan, ein Imker aus dem Nachbarstaat New Jersey bietet jetzt auch den Honig seiner gleichgesinnten Kollegen aus Manhattan an. Eine Frage der Vielfalt: „Der New Yorker Honig zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich ungewöhnlich herb und süß ist“ , erklärt Bryan, „das fehlte in meinem Sortiment“.

Landfläche in der Größe Virginias

Lokales Essen für eine globale Stadt? James McWilliams geht nicht zum Grand Army Plaza, er sitzt lieber im warmen Café. Der Buchautor weiß, dass es nie möglich sein wird, alle acht Millionen New Yorker mit Lebensmitteln aus der Nachbarschaft zu versorgen. Dafür gibt es einfach nicht genug Landwirtschaftsflächen. Dreiviertel aller Lebensmittel in Big Apple werden eingeflogen.

Um den Ernährungsbedarf der Stadtbevölkerung zu sichern, bedarf es einer freien Landmasse, die den ganzen US-Bundesstaat Virginia einnimmt. Außerdem hilft der Lokaltrend der Umwelt womöglich weit weniger, als viele glauben möchten. McWilliams behauptet, dass der Lebensmittel-Transport gerademal für zehn Prozent der Schäden verantwortlich zeichnet. Seine Alternativempfehlung an die Amerikaner, die pro Person 275 Pfund Fleisch im Jahr verzehren: „Wenn jeder von uns nur einmal in der Woche darauf verzichten würde, dann hätte das ökologisch gesehen genau denselben Effekt, als wenn wir alle Locavores wären“ .

Und doch: Beim Lokal-Trend macht sogar die Stadtverwaltung mit. Bürgermeister Michael Bloomberg, dem ein Öko-New-York vorschwebt, will es so. Auf seinen Ansporn ist es zurückzuführen, dass es in der Megalopolis mittlerweile 50 Wochenmärkte mit Nachbarschaftsprodukten gibt. Alexis Stevens arbeitet für die Umweltbehörde und leitet den Informationsstand am Grand Army Plaza. „Wir schauen uns jede Farm vor Ort an, um sicherzustellen, dass die Verkäufer wirklich ihr eigenes Gemüse anbauen“, versichert sie.

Bargeld oder anschreiben lassen

Auch für Maggy ist der Trend nicht mehr zu wegzudenken. Die Soziologin findet, dass es hipp ist, in New York ein Locavore zu sein. Und sie ist bereit, dafür tief in die Tasche zu greifen, denn sie weiß: „Relativ gesehen geben wir Amerikaner heute weniger Geld für Essen aus als in den 50er Jahren, wo es noch keine 99 Cents Hamburger und dergleichen gab“. Viele rezessionsgeprüfte New Yorker können sich aber trotzdem keine Lebensmittel von lokalen Farmern leisten.

Laurent Danthine, ein gebürtiger Belgier, verkauft Schweinshachse und Entenbrust, die drei Mal teurer sind als im Supermarkt. Nur am Grand Army Plaza im schicken Brooklyn wird er seine Ware noch los. Im Künstlerviertel Greenpoint ist der Absatz um die Hälfte eingebrochen. Der Farmer weigert sich aber standhaft, Subventionen anzunehmen, denn, sonst „bin ich ja nicht besser als die Massenproduzenten, die nur dank der Regierungsgelder so billig verkaufen können“. Auch von Kreditkarten hält Laurent nicht viel. Wer kein Bargeld dabei hat, kann bei ihm anschreiben lassen. Der Geschäftsmann weiß nur allzu gut: Seine Kunden sind ebenso lokal verbunden wie ihre Lebensmittel – säumige Zahler entkommen nicht.

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24. Dezember 2009

50.000 in Notunterkünften

Vulkan Mayon schleudert Asche-Fontänen – Warnung vor möglichem unmittelbaren Ausbruch

Auf den Philippinen hat der Vulkan Mayon am Donnerstag erneut Asche-Fontänen in die Luft geschleudert und Lava gespuckt. Rund 50 000 Flüchtlinge harren bei Verwandten und in Notunterkünften aus und fürchten um ihr Hab und Gut. Sie sind aus den Gefahrenzonen in Sicherheit gebracht worden. Ihre Dörfer könnten bei einem vollen Ausbruch des Vulkans untergehen. Ein solcher Ausbruch könne unmittelbar bevorstehen, warnte das Vulkan-Institut.

„Es gibt mehr Asche-Explosionen als in den vergangenen Tagen und das könnte der Beginn größerer Eruptionen sein“, sagte Sprecher Eduardo Laguerta. Die Lavaströme ergießen sich bereits fünf Kilometer hangabwärts. Nach seinen Angaben hat der Mayon in den vergangenen zehn Tagen 20 Millionen Kubikmeter Lava produziert. Der 2472 Meter hohe Mayon rund 360 Kilometer südöstlich von Manila ist einer der aktivsten Vulkane der Welt.

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24. Dezember 2009

Die Not stirbt nicht aus

Armut ist im Vormarsch, und ihr Gesicht wird jünger – Helfen kann, wer zwei Hände hat – zum Beispiel die Leute vom Louisebus in Wien

Echte Kälte kann sich der Mensch nicht vorstellen. Minus zehn, zwölf Grad muss man spüren. Stellen Sie sich kurz hinaus in die Kälte, und stellen Sie sich vor:

Sie haben keine Wohnung. Sie haben keine Arbeit. Sie leben in der Hoffnung, dass das vorübergehend ist. Bis dahin sind Sie mit Ihrer Familie in einem Abbruchhaus untergekrochen. Alles natürlich illegal. Aufenthaltsgenehmigungen und so. Ja, klar – schwierig. Aber was soll man machen? Daheim ist alles noch ärger, hier ist mehr Hoffnung. Trotz alledem.

Dann wird Ihr Kind krank. Über 40 Fieber, also kein Spaß mehr. Es hat immer noch minus zehn, zwölf Grad, und Sie sind immer noch illegal da und hocken in einer Ruine mit eingeschlagenen Fenstern. Nichts da, um das Kind zu wärmen, nichts da, um ihm zu helfen. Ärzte und Spital? Geht nicht. Keine Versicherung.

Egal woher Sie kommen, ob aus Rumänien oder Pakistan oder sonst wo: In dieser Not werden Sie alle höheren Mächte anschreien, ob es so etwas wie eine Gerechtigkeit gibt, ob denn da keiner ist, der helfen mag. Auch wenn man illegal hier ist in diesem Land, zum Teufel und Herrgott noch mal! Menschen sind wir alle. Menschen.

Es ist immer noch saukalt, der Wind treibt den Schnee in feinen Wellen über den Asphalt. Oben fährt die U6 im Morgentakt, unten neben dem Stationsausgang „Josefstädter Straße“ steht eine Gruppe Männer, um die alle, die die U-Bahn ausspuckt, lieber einen Bogen machen. Bewusst oder unbewusst – hier trennen sich die Welten wie Öl und Wasser. Die einen gehen zur Arbeit, den anderen ist Obdachlosigkeit ins Gesicht geschrieben, ins Gewand, in die Haltung. Noch keine Frau dabei. Ein paar Hunde. Stehen. Rauchen. Warten. Die sind das, was keiner sein will.

Punkt neun klappert ein weißer Kleinbus über den Gehsteig und parkt sich im Schneegestöber vor der Gruppe ein. Auf den haben sie gewartet. „Louise“ steht draufgeschrieben und „Caritas“. Sofort entsteht eine Schlange vor der schon etwas scheppernden Autoschiebetür: Drinnen gibt es zwei, drei Quadratmeter Wärme. Medikamente. Verbände. Und das, was altmodisch ausgedrückt Nächstenliebe heißt. Einer nach dem anderen bekommt sie hier. Gratis.

Der Louisebus der Caritas ist die fahrende Ordination für Menschen, die keine Versicherung haben, aber auch für die, von denen die „normalen“ Patienten in „normalen“ Ordinationen abrücken. Weil sie stinken, weil sie schmutzig sind, weil ihnen die Obdachlosigkeit ins Gesicht, ins Gewand, in die Haltung geschrieben steht.

Kaum einer, der sich dafür nicht geniert. Aber was soll man machen? Irgendwann ist irgendetwas schiefgegangen. Schulden. Alkohol. Beziehungskatastrophen. Vielleicht eine üble Kindheit. Eine holprige Startrampe ins Leben. Oder ein Psychoknacks, von dem man sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr erholen konnte. Wer sind die anderen, das zu verurteilen?

„Es macht mich wütend“, sagt Caritas-Wien-Leiter Michael Landau, „wenn arbeitslose Menschen unter den Generalverdacht gestellt werden, arbeitsunwillig und faul zu sein. Wer die Realität dieser Menschen kennt, der weiß, dass das damit nichts zu tun hat.“

Der Bus macht fünf Tage die Woche pünktlich an fixen Stationen halt. Allein im November haben die 10 Louise-Ärztinnen und Ärzte und ihre rund 30 freiwilligen Helfer 411 Patientinnen und Patienten behandelt. Viele davon mehr als ein Mal, die meisten hier sind Stammkunden. Mehr als 7000 Behandlungen pro Jahr. Tendenz steigend. Patientenalter sinkend.

Monika Nowy, praktische Ärztin, jung, fesch, quirlig, fröhlich, kennt praktisch jeden von ihnen. Seit sieben Jahren schiebt sie bis zu zweimal wöchentlich Dienst – zusätzlich zur eigenen Ordination.

Sie wirft jetzt im Bus den Laptop an. Der Buschauffeur ist der Assistent. Ein eher schweigsamer älterer Herr. Er fungiert sozusagen als Ordinationsassistenz, ruft die draußen Wartenden der Reihe nach herein. Kein Schmähführer wie die Ärztin. Ernster. Distinguiert. Ist vor seiner Pensionierung sicher kein Hilfsarbeiter gewesen. Aber jetzt ist nicht Zeit, näher darüber nachzudenken. Die Ordi geht los.

Der Bus ist wie eine kleine Apotheke mit vielen Laden ausgerüstet, mit einem Wandtischchen und einer gepolsterten Miniliege für die Patienten. Der Erste von ihnen klettert schwerfällig herein, Tür schnell zu, die Kälte bleibt draußen. Hingesetzt, den Schuh vorsichtig ausgezogen: Gebrochener Knöchel. Der Mann ist Mitte 30, rot-schwarzweiße Lederjacke und Jeans, eindeutig aus Oberösterreich und ein bisschen zu stark auf Alkohol.

Nowy schmiert und bandagiert, schaut in den Computer. Er war schon früher hier, sie sieht, dass er eine Versicherung hat. „Das ist der totale Luxus, wissen Sie das?“ Sie schreibt eine Zuweisung in eine Ambulanz.

Ein wichtiger Teil der Arbeit der Leute vom Louisebus besteht in Vermittlung, in Kontakten zu anderen karitativen Organisationen, zu den Leuten die die diversen Schlafstätten und Tagesheime organisieren, zu Krankenhäusern, zum Roten Kreuz. Und – wichtig – zu einzelnen Fachärzten, die Nichtversicherte unentgeltlich behandeln. Eine Liste von ihnen ist in Nowys Laptop, sie wird gehütet wie ein Schatz. Diese Ärzteliste ist mit Aktienwerten nicht aufzuwiegen. Ihre Dividende ist: Weniger Schmerz, weniger Kummer, mehr Kraft.

Sollten Sie Zahnärztin oder Zahnarzt sein – Sie wären auf dieser Liste sehr gefragt. Von Ihnen gibt es zu wenige. Die Frau, die jetzt in den Bus klettert, ist Anfang vierzig und hat ein Zahnweh, das man bereits sieht. Vorerst bekommt sie Schmerztabletten und den Rat Nowys, lieber nicht ins Krankenhaus zu gehen: „Die reißen sofort.“ Es gebe aber neuerdings einen Zahnarzt, der mit einer privat organisierten Schlafstelle kooperiere. Der macht Versicherungslosen sogar Plomben. Dort schickt sie die Frau hin.

Kurze Pause. Die Ärztin ist mit einem halbgegessenen Honigbrot in der Hand zum Dienst gekommen, jetzt, zwei Stunden später, sind fünf Minuten Zeit, den Rest zu verputzen. Was jetzt kommt, erfordert einen guten Magen. Billy. Schätzungsweise achtzig. Tatsächlich Mitte fünfzig. Ein echter Sandler. Sagt, er lebe seit 1975 auf der Straße. So arg wie er sind nicht viele beieinander. Er stinkt nach einer Woche durchbrunzter Hose, und das ist noch gut geschätzt.

Auch Billy ist ein alter Bekannter. Er weiß, dass er stinkt. Es tut ihm leid, er entschuldigt sich dafür. Nowy lacht und ist so dermaßen lieb zu ihm, dass man nicht weiß, ob man sich stärker darauf konzentrieren soll, nicht zu kotzen oder nicht zu heulen. Bevor jetzt irgendwas an Behandlung passiert, muss Billy geduscht und in sauberes Gewand gesteckt werden, das steht fest.

Mach’s gut, Billy

Der Chauffeur und Helfer hat ganz offenbar eine Schwäche für den Sandler. Er hilft ihm fürsorglich hinaus, führt ihn am Arm in die Josi, das Tageszentrum für Obdachlose vom Fonds Soziales Wien. Das ist nebenan in der abbröckelnden Otto-Wagner-Prachtarchitektur der Stadtbahnstation. Wieder eine über die verschiedenen Organisationen hinweg funktionierende Zusammenarbeit. Da drinnen gibt es Kaffee, Honigbrote, Wärme, sozialen Austausch.

Obwohl er das nicht müsste, hilft der Fahrer dem alten Säufer im Duschraum aus der Wäsche. Die ist in einem nicht beschreibbaren Zustand. Als Billy wieder in den Bus kommt, ist er sauber, hat verbundene Füße, aber immer noch Läuse in den Haaren. Lauslotion drauf und ausgekämmt. Mach’s gut, Billy, nächste Woche sehen wir einander wieder, sagt der Fahrer. Ganz behutsam.

Er selbst schiebt mehrmals pro Woche Louise-Dienst. Am Wochenende gibt er Suppe aus. Für Gottes Lohn und „aus christlicher Nächstenliebe“. Früher war er österreichischer Botschafter in London. Gestatten, Dr. Alexander Christiani.

Hilfe, sagt Michael Landau, ist nicht eine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens. Die Armut steigt. Auch in Österreich. Eine knappe Viertelmillion Menschen können ihre Wohnung nicht warm halten. Mehr als 50.000 Kinder leben in solchen Haushalten, schreiben ihre Aufgaben in Fäustlingen. Kein guter Start ins Leben, in die Leistungsgesellschaft.

Das Armutsthema, sagt Landau, muss 2010 ganz hinauf auf die politische Agenda. „Vor allem Bekämpfung und Vermeidung von Armut müssen einen deutlich höheren Stellenwert bekommen. Dafür ist sowohl individuelle als auch strukturelle Solidarität nötig. Der Sozialstaat ist kein Auslaufmodell, sondern ein Stück öffentlichen Reichtums.“

Strukturell ist die Politik dringend aufgerufen. Individuell heißt: du und ich. Jeder. Am besten: wir.

Wie? Seinen Nächsten ein wenig aufmerksamer betrachten und helfen, wenn es nottut. Ein paar Stunden pro Monat ehrenamtlich mit anpacken. Ein bisschen was von dem abgeben, was man hat, wenn man ohnehin genug hat.

Das Kind im Abbruchhaus – seine Eltern haben es zum Glück in den Louisebus gebracht. Selbst Monika Nowy, die ganz offensichtlich selten den Humor verliert, hat die Hände gerungen und sofort einen Krankenwagen gerufen. „Die Not“, sagt Landau, „stirbt nicht aus – auch nicht in Österreich.“

Die Louise-ÄrztInnen werden vom Fonds Soziales Wien finanziert, die WGKK übernimmt die Kosten für Medikamente, der Rest wird über Spenden finanziert. 30.000 € jährlich werden gebraucht.

Wer den Louisebus unterstützen will, kann das unter PSK 7.700.004, BLZ 60000, Kennwort „Louisebus“ tun.

23. Dezember 2009

Obdachlos? Ab nach Hause!

Rückkehrhilfen und eine zweite „Gruft“ für EU-BürgerInnen: So will Wien seine Obdachlosen von der Straße kriegen

In den letzten Wochen sind die wohnungslosen UnionsbürgerInnen wieder ins Blickfeld geraten: Da ihnen die Obdachlosenheime versperrt sind, hatten sie sich im besetzten Audimax der Uni Wien einquartiert. Nun ist der Hörsaal geräumt – im Gegensatz zu den schneebedeckten Parks in Wien.

Eine Lösung musste her: In Form eines Speisesaals, der nachts mit Matten belegt wird, ist sie nun vorerst geschaffen. Im Caritas-Tageszentrum Lacknerstraße in Wien-Währing zog Montag abend das erste Dutzend Obdachlose aus dem Audimax ein. Mithilfe eines „Toleranzparagraphen“ im Wiener Sozialhilfegesetz sei das möglich, erklärt Peter Hacker, Geschäftsführer des FSW – nicht ohne hinzuzufügen, dass die Milde des Paragrafen sich der Härte des Winters verdankt. „Wien kann nicht alle sozialen Probleme Europas lösen“, erklärt Hacker. Soll heißen: Kommt Frühling, kommt neues Problem. An einer permanenten Lösung für den nächsten Winter werde gerade gebastelt.

Extra-Gruft für nächsten Winter

Und die hat zweierlei Gesicht. Denn einerseits ist die Lacknergasse nach Wunsch der Wiener Caritas nicht nur Sofortmaßnahme, sondern „eine provisorische zweite Gruft“, wie Generalsekretär Alexander Bodmann betont. Räumlichkeiten für eine dauerhafte Fortführung dieser „EU-Gruft“ werden gerade gesucht. Dort soll es dann ausnahmsweise möglich sein, wohnungslose EU-BürgerInnen einzuquartieren.

Zur Heimreise bewegen

Andererseits ist die Stadt Wien bestrebt, Obdachlose zur Rückkehr zu bewegen: Wohnungslose sollen dort versorgt werden, wo sie herkommen. Da zum Versorgt-Werden aber immer zwei gehören, stehen zusätzliche Schritte an: Karitative Vereine vor Ort müssen überzeugt werden, in Wien Gestrandete aufzunehmen. Und vor allem gilt es jene, die auf der Straße leben, erst zur Abreise zu bewegen. Mittels Rückkehrhilfen solle das geschehen, sagt Bodmann – also Beratung, die in der Regel mit finanziellen Anreizen verbunden ist.  Denn eines habe die Erfahrung gelehrt, sagt Hacker: „Jemanden einfach in den Zug zu setzen, das spielt es nicht. So sponsert man höchstens den öffentlichen Verkehr“.

Nie im Leben zurück

Geld annehmen fürs Heimfahren? „Nie im Leben“, ist sich Gospar sicher. Seit acht Monaten lebt der Jazzmusiker in Wien – in der Hoffnung, hier zumindest ein wenig besser vom Musizieren leben zu können als zuhause im westrumänischen Oradea. Die ersten Wochen schlief er in der „Vinzirast“, deren Alkoholiker-Klientel ihm bald zuviel wurde. Zwei Monate wohnte er bei der Freundin. Mit der Trennung begann das Leben auf der Straße und schließlich im Hörsaal.

Zu gut gekleidet

Letzte Nacht schlief Gospar erstmals am Boden des Lacknergassen-Zentrums. Er wirkt gut gelaunt, ist frisch geduscht und gekleidet – schlechte Voraussetzungen für einen Straßenmusiker, wie Gospar erzählt. „Ich mache höchstens sieben Euro am Tag. Andere, die irgendein Düdldü spielen, kriegen haufenweise Geld.“ Nicht auf Qualität kommt es an im Straßenmusikbusiness, sondern auf die passende Kleidung. „Wer dreckig ist, kriegt am meisten Geld“, sagt Gospar in gepflegtem Englisch mit deutschen Einsprengseln.

„Sicher werde ich hin und wieder meine Familie besuchen. Aber in Rumänien will ich nie wieder leben.“ Seit der Wende liege vieles im Argen. „Die Macht liegt bei den selben Leuten wie im Kommunismus. Sie haben ein anderes Gesicht, aber korrupt sind sie so wie vorher.“ Für KünstlerInnen gebe es keine Unterstützung, und die Gagen seien lausig. Er werde es weiterhin hier versuchen.

Erste Nacht reibunglos

Von den 80 Audimax-Obdachlosen sind nur 15 in der Lacknergasse angekommen: „Menschen einen Zettel in die Hand zu drücken, ist wohl zu wenig“, meint Bodmann in Anspielung an die Vorgangsweise der Uni Wien bei der Hörsaal-Räumung. Erich Grabner, Leiter des Tageszentrums, ist überzeugt, dass noch weitere kommen werden. Bis zu 40 Schlafplätze bietet der Speiseraum, die erste Nacht verlief reibungslos. „Um Mitternacht hab ich noch einmal reingeschaut“, sagt Grabner. „Die haben geschlafen wie die Babys.“

23. Dezember 2009

„Audimaxismus“ ist das österreichische Wort des Jahres 2009

„Wer alt genug ist zum Stehlen, ist auch alt genug zum Sterben“ wurde zum „Unspruch“ gewählt

Das Rennen um das österreichische Wort des Jahres 2009 ist geschlagen: „Audimaxismus“ hat es vor „Kuschelkurs“ und „Ungustlvermutung“ an die Spitze der Kandidatenwörter geschafft. „Analogkäse“ wurde zum Unwort gewählt. Das gab die Fachjury unter der Leitung von Rudolf Muhr von der Fakultät für Umwelt- und Erziehungswissenschaften an der Universität Graz bekannt. Die Wahl wurde in Kooperation mit der APA durchgeführt.

Der Begriff „Audimaxismus“ entstand im Rahmen der neuen Studentenbewegung, die mit der Besetzung des größten Hörsaals der Universität Wien, dem Auditorium Maximum – kurz Audi Max – begann. Durch die anhaltenden Proteste sei erstmals seit langem wieder ernsthaft und umfassend über Bildung diskutiert worden, begründete die Fachjury ihr Urteil. Das Wort selbst stehe zum einen für den Wunsch der Studenten und Studentinnen nach maximaler Verbesserung ihrer Studienbedingungen und zum anderen dafür, bei der Politik Gehör (audi = lat. höre) zu finden.

Unwort „Analogkäse“

Beim „Analogkäse“ handelt es sich laut Jury sowohl aus sprachlicher wie auch aus sachlicher Sicht um ein Unwort, da es für einen Etikettenschwindel stehe. Das damit bezeichnete Produkt habe mit Käse nichts zu tun, d.h. es handle sich um ein Imitat. „Sprachlich wird jedoch aufgrund der deutschen Wortbildungsregeln der Eindruck erweckt, dass es sich doch um ‚Käse‘ handelt“, erklärte Muhr.

Spruch: „Reiche Eltern für alle!“

Als Spruch des Jahres wurde „Reiche Eltern für alle!“ an die erste Stelle gewählt. Auch diese ironisch gemeinte Aussage steht im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Hochschuldiskussion und weise darauf hin, dass unser Bildungssystem zu sehr auf den sozialen Status der Eltern ausgerichtet und nicht hinreichend durchlässig sei. Die Absurdität der Forderung verleihe dem Spruch Originalität und Zitatqualität, so die Fachjury.

„Wer alt genug ist zum Stehlen, ist auch alt genug zum Sterben“ – dieser Ausspruch wurde im heurigen Jahr im Zusammenhang mit dem Einbruch in einen Kremser Supermarkt und dem Tod eines daran beteiligten Jugendlichen in einem Massenmedium kolportiert. Allein die Tatsache, dass ein solcher Satz in der medialen Öffentlichkeit verwendet wird, verweise auf „ein erschreckendes Ausmaß an Menschenverachtung und das fehlende Rechtsbewusstsein, das sich seit einiger Zeit in manchen Medien ausbreitet“, begründeten die Experten rund um Rudolf Muhr das Wahlergebnis.

2008 war „Lebensmensch“ zum heimischen Wort des Jahres gewählt worden. Der vielzitierte Begriff „Gewinnwarnung“ war damals zum Unwort erkoren worden.

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