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24. Dezember 2009

Die Not stirbt nicht aus

Armut ist im Vormarsch, und ihr Gesicht wird jünger – Helfen kann, wer zwei Hände hat – zum Beispiel die Leute vom Louisebus in Wien

Echte Kälte kann sich der Mensch nicht vorstellen. Minus zehn, zwölf Grad muss man spüren. Stellen Sie sich kurz hinaus in die Kälte, und stellen Sie sich vor:

Sie haben keine Wohnung. Sie haben keine Arbeit. Sie leben in der Hoffnung, dass das vorübergehend ist. Bis dahin sind Sie mit Ihrer Familie in einem Abbruchhaus untergekrochen. Alles natürlich illegal. Aufenthaltsgenehmigungen und so. Ja, klar – schwierig. Aber was soll man machen? Daheim ist alles noch ärger, hier ist mehr Hoffnung. Trotz alledem.

Dann wird Ihr Kind krank. Über 40 Fieber, also kein Spaß mehr. Es hat immer noch minus zehn, zwölf Grad, und Sie sind immer noch illegal da und hocken in einer Ruine mit eingeschlagenen Fenstern. Nichts da, um das Kind zu wärmen, nichts da, um ihm zu helfen. Ärzte und Spital? Geht nicht. Keine Versicherung.

Egal woher Sie kommen, ob aus Rumänien oder Pakistan oder sonst wo: In dieser Not werden Sie alle höheren Mächte anschreien, ob es so etwas wie eine Gerechtigkeit gibt, ob denn da keiner ist, der helfen mag. Auch wenn man illegal hier ist in diesem Land, zum Teufel und Herrgott noch mal! Menschen sind wir alle. Menschen.

Es ist immer noch saukalt, der Wind treibt den Schnee in feinen Wellen über den Asphalt. Oben fährt die U6 im Morgentakt, unten neben dem Stationsausgang „Josefstädter Straße“ steht eine Gruppe Männer, um die alle, die die U-Bahn ausspuckt, lieber einen Bogen machen. Bewusst oder unbewusst – hier trennen sich die Welten wie Öl und Wasser. Die einen gehen zur Arbeit, den anderen ist Obdachlosigkeit ins Gesicht geschrieben, ins Gewand, in die Haltung. Noch keine Frau dabei. Ein paar Hunde. Stehen. Rauchen. Warten. Die sind das, was keiner sein will.

Punkt neun klappert ein weißer Kleinbus über den Gehsteig und parkt sich im Schneegestöber vor der Gruppe ein. Auf den haben sie gewartet. „Louise“ steht draufgeschrieben und „Caritas“. Sofort entsteht eine Schlange vor der schon etwas scheppernden Autoschiebetür: Drinnen gibt es zwei, drei Quadratmeter Wärme. Medikamente. Verbände. Und das, was altmodisch ausgedrückt Nächstenliebe heißt. Einer nach dem anderen bekommt sie hier. Gratis.

Der Louisebus der Caritas ist die fahrende Ordination für Menschen, die keine Versicherung haben, aber auch für die, von denen die „normalen“ Patienten in „normalen“ Ordinationen abrücken. Weil sie stinken, weil sie schmutzig sind, weil ihnen die Obdachlosigkeit ins Gesicht, ins Gewand, in die Haltung geschrieben steht.

Kaum einer, der sich dafür nicht geniert. Aber was soll man machen? Irgendwann ist irgendetwas schiefgegangen. Schulden. Alkohol. Beziehungskatastrophen. Vielleicht eine üble Kindheit. Eine holprige Startrampe ins Leben. Oder ein Psychoknacks, von dem man sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr erholen konnte. Wer sind die anderen, das zu verurteilen?

„Es macht mich wütend“, sagt Caritas-Wien-Leiter Michael Landau, „wenn arbeitslose Menschen unter den Generalverdacht gestellt werden, arbeitsunwillig und faul zu sein. Wer die Realität dieser Menschen kennt, der weiß, dass das damit nichts zu tun hat.“

Der Bus macht fünf Tage die Woche pünktlich an fixen Stationen halt. Allein im November haben die 10 Louise-Ärztinnen und Ärzte und ihre rund 30 freiwilligen Helfer 411 Patientinnen und Patienten behandelt. Viele davon mehr als ein Mal, die meisten hier sind Stammkunden. Mehr als 7000 Behandlungen pro Jahr. Tendenz steigend. Patientenalter sinkend.

Monika Nowy, praktische Ärztin, jung, fesch, quirlig, fröhlich, kennt praktisch jeden von ihnen. Seit sieben Jahren schiebt sie bis zu zweimal wöchentlich Dienst – zusätzlich zur eigenen Ordination.

Sie wirft jetzt im Bus den Laptop an. Der Buschauffeur ist der Assistent. Ein eher schweigsamer älterer Herr. Er fungiert sozusagen als Ordinationsassistenz, ruft die draußen Wartenden der Reihe nach herein. Kein Schmähführer wie die Ärztin. Ernster. Distinguiert. Ist vor seiner Pensionierung sicher kein Hilfsarbeiter gewesen. Aber jetzt ist nicht Zeit, näher darüber nachzudenken. Die Ordi geht los.

Der Bus ist wie eine kleine Apotheke mit vielen Laden ausgerüstet, mit einem Wandtischchen und einer gepolsterten Miniliege für die Patienten. Der Erste von ihnen klettert schwerfällig herein, Tür schnell zu, die Kälte bleibt draußen. Hingesetzt, den Schuh vorsichtig ausgezogen: Gebrochener Knöchel. Der Mann ist Mitte 30, rot-schwarzweiße Lederjacke und Jeans, eindeutig aus Oberösterreich und ein bisschen zu stark auf Alkohol.

Nowy schmiert und bandagiert, schaut in den Computer. Er war schon früher hier, sie sieht, dass er eine Versicherung hat. „Das ist der totale Luxus, wissen Sie das?“ Sie schreibt eine Zuweisung in eine Ambulanz.

Ein wichtiger Teil der Arbeit der Leute vom Louisebus besteht in Vermittlung, in Kontakten zu anderen karitativen Organisationen, zu den Leuten die die diversen Schlafstätten und Tagesheime organisieren, zu Krankenhäusern, zum Roten Kreuz. Und – wichtig – zu einzelnen Fachärzten, die Nichtversicherte unentgeltlich behandeln. Eine Liste von ihnen ist in Nowys Laptop, sie wird gehütet wie ein Schatz. Diese Ärzteliste ist mit Aktienwerten nicht aufzuwiegen. Ihre Dividende ist: Weniger Schmerz, weniger Kummer, mehr Kraft.

Sollten Sie Zahnärztin oder Zahnarzt sein – Sie wären auf dieser Liste sehr gefragt. Von Ihnen gibt es zu wenige. Die Frau, die jetzt in den Bus klettert, ist Anfang vierzig und hat ein Zahnweh, das man bereits sieht. Vorerst bekommt sie Schmerztabletten und den Rat Nowys, lieber nicht ins Krankenhaus zu gehen: „Die reißen sofort.“ Es gebe aber neuerdings einen Zahnarzt, der mit einer privat organisierten Schlafstelle kooperiere. Der macht Versicherungslosen sogar Plomben. Dort schickt sie die Frau hin.

Kurze Pause. Die Ärztin ist mit einem halbgegessenen Honigbrot in der Hand zum Dienst gekommen, jetzt, zwei Stunden später, sind fünf Minuten Zeit, den Rest zu verputzen. Was jetzt kommt, erfordert einen guten Magen. Billy. Schätzungsweise achtzig. Tatsächlich Mitte fünfzig. Ein echter Sandler. Sagt, er lebe seit 1975 auf der Straße. So arg wie er sind nicht viele beieinander. Er stinkt nach einer Woche durchbrunzter Hose, und das ist noch gut geschätzt.

Auch Billy ist ein alter Bekannter. Er weiß, dass er stinkt. Es tut ihm leid, er entschuldigt sich dafür. Nowy lacht und ist so dermaßen lieb zu ihm, dass man nicht weiß, ob man sich stärker darauf konzentrieren soll, nicht zu kotzen oder nicht zu heulen. Bevor jetzt irgendwas an Behandlung passiert, muss Billy geduscht und in sauberes Gewand gesteckt werden, das steht fest.

Mach’s gut, Billy

Der Chauffeur und Helfer hat ganz offenbar eine Schwäche für den Sandler. Er hilft ihm fürsorglich hinaus, führt ihn am Arm in die Josi, das Tageszentrum für Obdachlose vom Fonds Soziales Wien. Das ist nebenan in der abbröckelnden Otto-Wagner-Prachtarchitektur der Stadtbahnstation. Wieder eine über die verschiedenen Organisationen hinweg funktionierende Zusammenarbeit. Da drinnen gibt es Kaffee, Honigbrote, Wärme, sozialen Austausch.

Obwohl er das nicht müsste, hilft der Fahrer dem alten Säufer im Duschraum aus der Wäsche. Die ist in einem nicht beschreibbaren Zustand. Als Billy wieder in den Bus kommt, ist er sauber, hat verbundene Füße, aber immer noch Läuse in den Haaren. Lauslotion drauf und ausgekämmt. Mach’s gut, Billy, nächste Woche sehen wir einander wieder, sagt der Fahrer. Ganz behutsam.

Er selbst schiebt mehrmals pro Woche Louise-Dienst. Am Wochenende gibt er Suppe aus. Für Gottes Lohn und „aus christlicher Nächstenliebe“. Früher war er österreichischer Botschafter in London. Gestatten, Dr. Alexander Christiani.

Hilfe, sagt Michael Landau, ist nicht eine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens. Die Armut steigt. Auch in Österreich. Eine knappe Viertelmillion Menschen können ihre Wohnung nicht warm halten. Mehr als 50.000 Kinder leben in solchen Haushalten, schreiben ihre Aufgaben in Fäustlingen. Kein guter Start ins Leben, in die Leistungsgesellschaft.

Das Armutsthema, sagt Landau, muss 2010 ganz hinauf auf die politische Agenda. „Vor allem Bekämpfung und Vermeidung von Armut müssen einen deutlich höheren Stellenwert bekommen. Dafür ist sowohl individuelle als auch strukturelle Solidarität nötig. Der Sozialstaat ist kein Auslaufmodell, sondern ein Stück öffentlichen Reichtums.“

Strukturell ist die Politik dringend aufgerufen. Individuell heißt: du und ich. Jeder. Am besten: wir.

Wie? Seinen Nächsten ein wenig aufmerksamer betrachten und helfen, wenn es nottut. Ein paar Stunden pro Monat ehrenamtlich mit anpacken. Ein bisschen was von dem abgeben, was man hat, wenn man ohnehin genug hat.

Das Kind im Abbruchhaus – seine Eltern haben es zum Glück in den Louisebus gebracht. Selbst Monika Nowy, die ganz offensichtlich selten den Humor verliert, hat die Hände gerungen und sofort einen Krankenwagen gerufen. „Die Not“, sagt Landau, „stirbt nicht aus – auch nicht in Österreich.“

Die Louise-ÄrztInnen werden vom Fonds Soziales Wien finanziert, die WGKK übernimmt die Kosten für Medikamente, der Rest wird über Spenden finanziert. 30.000 € jährlich werden gebraucht.

Wer den Louisebus unterstützen will, kann das unter PSK 7.700.004, BLZ 60000, Kennwort „Louisebus“ tun.