Drei ganz große Romane haben die literarische Herbst- und Frühwintersaison dominiert: Herta Müllers „Atemschaukel“, Roberto Bolanos „2666“ und David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“. Aber auch abseits der Spitzentitel gibt es viel Lesenswertes zu schenken.
Die Macht der Poesie
In dem neuen Roman des deutschen Schriftstellers Dietmar Dath, „Sämmtliche Gedichte“, geht es um den Vorrang der Poesie vor allen gesellschaftlichen Ordnungsversuchen, sei es nun die Politik oder auch die Wirtschaft als Subsysteme des Sozialen schlechthin. Doch gibt es das postulierte Primat der Poesie wirklich, und wenn ja, was bringt es?
Dath lässt in der komplexen Handlung seines knapp 300 Seiten langen Romans zwei Gegenspieler aufeinandertreffen: Einer ist pro Poesie, sein Kontrahent hält diesen Ansatz schlichtweg für Schrott. Dath versucht, in einer dichten Handlung die Lösung dieses Problems offenbar auch für sich selbst zu finden.
Doch die Poesie hat das Nachsehen. Alle in dem Roman erwähnten Gedichte hat der Autor auch in voller Länge in den Roman eingebaut – und hierin liegt auch der Wermutstropfen für den geneigten Leser der „Schreibmaschine“ Dath, der ein bis zwei Bücher jährlich auf den Markt bringt: Sind die Gedichte nun parodistisch gemeint, und führen so die Romanfiguren in ihrem literarischen Ausdruck den Leser auf die richtige Spur, oder sind die Poesieergüsse nur langweilig und schlecht? Alles in allem ein interessanter Ansatz, der den Leser zum Nachdenken anregen soll.
Dietmar Dath:
Sämmtliche Gedichte
Suhrkamp Verlag
283 Seiten
23,50 Euro
Liebe, Tod und Abschiednehmen
Reinhard Kaiser-Mühlecker, Jahrgang 1982, gilt bereits jetzt als Fixstern auf dem Literaturhimmel. 2007 eroberte er mit seinem Roman „der lange Gang über die Stationen“ die Kritiker im Sturm. Nun legt er mit „Magdalenaberg“ den eindrucksvollen Beweis vor, dass es sich bei ihm um kein „One-Hit-Wonder“ handelt.
Wie in seinem ersten Buch dient auch hier der ländliche Raum als Kulisse für eine Geschichte, die sich langsam entwickeln darf. Ein Ich-Erzähler berichtet über das kurze Leben seines Bruders – und muss sich dabei seiner eigenen Vergangenheit stellen, seinem Liebesleben, seiner Beziehung zu den Eltern.
Kaiser-Mühleckers nachdenklicher Roman ist eine packende Geschichte über Herkunft, Liebe, Tod und das Abschiednehmen.
Reinhard Kaiser-Mühlecker:
Magdalenaberg
Hoffmann und Campe
191 Seiten
20,60 Euro
Fliehen vor der schlechten Nachricht
Für großes Echo sorgte während der vergangenen Wochen der Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ des Israelis David Grossmann. Der Autor erzählt darin die Geschichte von Ora, deren Sohn in den Krieg zieht.
Sie flieht mit ihrem Geliebten in die Berge, um der drohenden Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu entgehen. Grossmann selbst hat im Libanon-Krieg seinen Sohn verloren. Sein vielstimmiger Roman handelt von einer Familie in Zeiten existenzieller Verzweiflung und davon, was der Krieg aus Menschen machen kann.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ sprach von einem „großen Anti-Kriegsroman“, in der „Frankfurter Rundschau“ wird die Lektüre als „schmerzhaft intensiv“ bezeichnet.
David Grossmann:
Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Hanser
736 Seiten
25,60 Euro
Wie das Leben riecht
Ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Buch hat der Journalist Walter Kohl geschrieben. Auf 237 Seiten erzählt er in packender – aber niemals reißerischer – Sprache die Geschichte seines eigenen Gebrechens: Seit einem Fahrradunfall riecht Kohl nichts mehr.
„Wie riecht Leben? Bericht aus einer Welt ohne Gerüche“, titelt er sein großteils autobiografisches Buch. Kohl gibt einen intimen Einblick, was es bedeutet, Beziehungen zu Menschen aufzubauen, wenn man sie nicht riecht, wie eine Sexualität ohne diesen zusätzlichen Reiz funktioniert – oder eben scheitert.
Wie nebenbei wird eine medizinische Leidensgeschichte mit wiederholten Operationen erzählt. Mut, Hoffnung, Todesangst und Verzweiflung liegen stets nah beieinander. In den Tagen, nachdem man das Buch gelesen hat, sieht man die Welt mit anderen Augen.
Walter Kohl:
Wie riecht Leben? Bericht aus einer Welt ohne Gerüche
Zsolnay
237 Seiten
20,50 Euro
Der Roman für die Nullerjahre
Wenn es einen Roman gibt, der die Nullerjahre treffend beschreibt, dann Terezia Moras „Der einzige Mann auf dem Kontinent“. Im Mittelpunkt der Handlung steht Darius Kopp, der übergewichtige, überwichtige Vertreter einer internationalen Firma für Drahtlose Netzwerke in Deutschland und Osteuropa.
Kopp ist Anfang 40 und versichert sich selbst permanent, auf dem Erfolgsweg zu sein. Doch sein Leben beginnt ihm zu entgleiten, als ein Kunde ihm einen Koffer voll Geld in die Hand drückt. Immer mehr lügt er sich vor, produktiv zu arbeiten, während er bald nur noch im Internet surft.
Die Firma scheint ihm genauso abhanden zu kommen wie seine Ehefrau. Ein Gebäude an Lebenslügen bricht zusammen. Böse, trotzdem mitfühlend und streckenweise hochkomisch begleitet Mora Darius Kopp auf seinen Abwegen.
Terezia Mora:
Der einzige Mann auf dem Kontinent
Luchterhand
379 Seiten
22,60 Euro
Der Nobelpreisroman
Über Herta Müllers „Atemschaukel“ muss man eigentlich nicht mehr berichten, seit sie den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam. Dennoch sei auch an dieser Stelle auf das bemerkenswerte Buch hingewiesen.
In formvollendeter, poetischer Sprache berichtet sie über einen jungen Rumäniendeutschen, der von den Russen nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Arbeitslager verschleppt wird. Die intensive Sprache ist es auch, die mitunter den Blick verstellt auf das Grauen, über das erzählt wird.
Den Stoff für ihren Roman hat sie in Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden gesammelt. Selten sind sich die Kritiker in den Feuilletons so einig: ein „Meisterwerk“.
Herta Müller:
Atemschaukel
Hanser
304 Seiten
20,50 Euro
Die unendliche Lektüre
David Foster Wallace schrieb drei Jahre an dem Roman, Ulrich Blumenbach, der Übersetzer ins Deutsche, brauchte noch länger: Überbordend komplex, hochintelligent, mitunter witzig und jedenfalls lesenswert sind die 1.548 Seiten von „Unendlicher Spaß“.
Der Roman ist ein zutiefst kulturpessimistischer Science-Fiction-Roman, der in einer nahen Zukunft spielt – von 1996 aus gesehen entspricht das unserer Gegenwart. Die Hauptfigur „Hal“ ist ein Genie – sportlich und intellektuell, leidet aber unter massiven psychischen Problemen.
Abgesehen hat es Foster Wallace auf die Konsumgesellschaft, in der sich Konzerne bis hin zu Jahreszahlen alles kaufen können. Wer an der Lektüre zu verzweifeln droht, findet online die Protokolle von Lesezirkeln, die zwischendurch für Überblick sorgen können – mehr dazu in Keine Angst vor dicken Schwarten.
David Foster Wallace:
Unendlicher Spaß
Kiepenheuer und Witsch
1.548 Seiten
41,40 Euro
Ein Buch wie ein Monster
Ebenfalls viele Lesestunden verspricht „2666“ von Roberto Bolano. Auf fast 1.100 Seiten mit Dutzenden Charakteren schuf der bereits 2003 verstorbene Chilene ein episches Werk, das heuer auf Deutsch erschienen ist.
Im Zentrum der fünf lose verbundenen Kapitel steht die mexikanische Stadt Santa Teresa, als reales Vorbild diente Ciudad Juarez, wo Hunderte Frauen ermordet wurden. Bolano zeichnet eine Welt, in der die Vernunft abgedankt hat, eine Gesellschaft am Abgrund.
Filmschnittartig verwebt Bolano die Schauplätze, Handlungsstränge und Charaktere, verwischt literarische Genres, zeichnet Psychogramme, wo man sie nicht erwartet, und konzentriert sich manchmal auf Details – ohne sich darin zu verlieren. Umfang, Inhalt, Dramaturgie, das alles macht „2666“ zu einem monströsen Buch – mehr dazu in US-Kritik begeistert.
Roberto Bolano:
2666
Hanser
1.096 Seiten
29,90 Euro
Lustvolles Schwadronieren
Einem dunklen Traum gleich liest sich Marcel Mörings „Der nächtige Ort“. Voll Fabulierlust erzählt der Autor darin die Geschichte von Jakob Noach, der den Holocaust am Land versteckt überlebt hat und danach, getrieben von Wut, daran geht, sich Wohlstand anzueignen.
Auf der Strecke bleibt dabei das emotionale Empfinden für seine Umgebung. Schon bald bringt er keine intensiven Gefühle mehr für seine Frau und seine Töchter auf. Das Buch ist zugleich Familien-, Epochen- und Entwicklungsroman.
Die Jury der ORF-Bestenliste konstatiert Möring, sich „lustvoll schwadronierend mit Glauben und Philosophie, mit der Moderne, der Lebensleere, mit Liebessehnsucht und immer wieder mit ruhelosen Seelen“ zu beschäftigen. Der Schmerz bleibe sein literarischer Ausgangs- und Angelpunkt.
Marcel Möring:
Der nächtige Ort
Luchterhand
555 Seiten
25,70 Euro
Nick Cave, der Saubartel
„Schlurp“ und „Zack“ als Sexualgeräusche haben heuer dem Rocker Nick Cave eine Nominierung für den „Bad Sex in Fiction“ Award eingebracht. Seinen Roman „Der Tod des Bunny Monro“ sollte man dennoch nicht auf derbe Zoten reduzieren.
Cave erzählt darin das Leben eines sexbesessenen Handelsvertreters, der sich nach dem Selbstmord seiner Frau mit seinem Sohn
auf eine Reise macht. All der Beischlaf mit Kundinnen reicht nicht aus, um die Gedanken an seine Frau zu vertreiben.
Seinen Sohn übersieht Bunny dabei gänzlich. Der Roman schwankt zwischen zartfühlender Empathie für seine Hauptfiguren und ruppiger Gewalt – bis knapp vor jene Grenze, was man als Leser noch auszuhalten gewillt ist.
Nick Cave:
Der Tod des Bunny Munro
Kiepenheuer und Witsch
320 Seiten
20,60 Euro